Leseprobe Bei mir bist du sicher & Ihr erster Ehemann

Kapitel 1

DIE EHEFRAU

Drei Stunden zuvor

Es ist ein klarer Junimorgen am East End von Long Island. Die Autofenster sind heruntergelassen, als ich auf den Parkplatz von Rocky Point Beach einbiege und den letzten freien Platz erwische. Es gibt nur zwanzig. Rocky Point wird hauptsächlich von den Ortsansässigen besucht. Er ist nie überfüllt wie einige der anderen Strände. Mein Plan für heute ist, für ein paar Stunden in ein neues Buch abzutauchen und vielleicht ein kleines Nickerchen zu machen.

Als meine Füße den Sand berühren, halte ich Ausschau nach meinem Lieblingsplatz am rechten Strandufer. Dort befindet sich ein einsamer Baum, der Schatten spendet, aber nur am Morgen. Wann immer mein Mann und ich herkommen, bestehe ich darauf, dass wir unser Lager unter diesem Baum aufschlagen. Zu viel Sonne schadet der Haut. Wenn man über vierzig ist, muss man besonders darauf achtgeben.

Ich schlendere durch den warmen Sand auf „mein“ Plätzchen zu. Als ich näherkomme, bemerke ich eine andere Frau, die augenscheinlich die gleiche Idee hatte. Sie ist jünger als ich, mit langem dunklem Haar und einem großen Schlapphut aus Stroh mit einer roten Schleife. Ich bleibe stehen und schaue mich nach einer Alternative um, wohlwissend, dass es keine gibt. Ich war hier schon unzählige Male und es gibt nur diesen einen schattigen Ort. Der Rest des Strandes ist fast leer. Ob sie es wohl seltsam finden würde, wenn ich mich direkt neben sie setze, obwohl es so viele andere Stellen gibt? Ich muss auf meine Haut achtgeben, also gehe ich weiter auf sie zu.

„Entschuldigen Sie“, sage ich, als ich mich ihr nähere, „ich hoffe, es stört Sie nicht, aber das ist der einzige Ort am Strand mit ein wenig Schatten, und ich wollte fragen …“

„Es ist ein freies Land. Setzen Sie sich“, erwidert sie mit einem Lächeln und schiebt ihre dunkle Sonnenbrille entlang ihrer perfekt geraden Nase ein Stückchen höher. „Mich stört es nicht, wenn Sie der Lärm nicht stört.“

Lärm? Ich sehe hinunter. In einem transportablen Autositz liegt ein Baby.

„Keine Sorge“, sagt sie mit einem leichten, aber hörbar slawischen Akzent, „er ist ein sehr guter Junge, er weint kaum.“

Ich lächle und lehne mich vor, um einen Blick auf das schlafende Kind zu werfen. Als ich sein Gesicht sehe, stockt mir der Atem. Zarte, hellbraune Haarsträhnen, winzige geschwungene, rote Lippen und die süßesten Pausbäckchen – er ist zauberhaft.

„Er ist wunderschön“, sage ich. „Wie alt ist er?“

Die Frau steht auf und enthüllt ihren marineblauen Einteiler. Sie streckt ihre Arme über die Brust, zuerst den einen, dann den anderen. Sie ist unglaublich durchtrainiert und ich bin ein wenig neidisch.

„Er ist vier Monate alt“, sagt sie, „und er ist die Liebe meines Lebens.“

Ich schaue zu ihm zurück und sehe, dass er ein blasses Geburtsmal zwischen den Augen hat. Ihr scheint aufgefallen zu sein, dass ich es betrachte, denn sie sagt: „Es war viel dunkler, als er geboren wurde. Die Ärzte sagen, sein Mal wird in ein paar Monaten verschwinden und alles wird perfekt sein.“

„Ich bin mir sicher, die Ärzte werden Recht behalten. Man kann es jetzt schon kaum mehr sehen.“

Sie nickt. „Ich hoffe es.“

„Sie sehen übrigens fantastisch aus“, sage ich voller Bewunderung für ihre Figur. Ich trainiere einmal die Woche mit einem Fitness-Trainer und sehe nicht halb so gut aus wie sie, und das kurz nach der Geburt. Das Leben kann so unfair sein.

Sie nickt. Ich lächle verlegen und lege mein Handtuch so weit von ihr entfernt wie möglich, aber immer noch im Schatten. Sobald ich mich arrangiert habe, lege ich mich hin und drehe mich auf den Rücken, um mich auszustrecken. Normalerweise kann ich stundenlang am Strand liegen, aber heute bin ich ruhelos. Ich warte ein paar Minuten und drehe mich wieder auf den Bauch, ziehe mein Buch heraus und beginne zu lesen. Trotz aller Bemühungen kann ich mich nicht konzentrieren. Etwas an dieser Frau mit dem Akzent und dem Baby fasziniert mich. Ich ertappe mich dabei, wie ich mehrfach zu ihnen hinüberspähe, während ich so tue, als würde ich lesen.

„Mir ist aufgefallen, dass Sie einen leichten Akzent haben“, rufe ich. „Wo kommen Sie her?“

Sie klappt die Krempe ihres Strohhuts zurück, späht mich über den Rand ihrer Sonnenbrille an und lächelt. Jetzt kann ich erkennen, dass sie dunkelbraune Augen hat, professionell geformte Brauen und einen kleinen Schönheitsfleck neben ihrem rechten Auge.

„Sie haben ein gutes Ohr“, sagt sie. „Den meisten Leuten fällt es nicht auf. Ich komme ursprünglich aus Tschechien, aber ich lebe in den USA, seit ich elf bin. Waren Sie schon mal in Prag?“

„Nein, aber ich hab gehört, dass es dort wunderschön sein soll.“

„Sie sollten es mal während der Frühlingszeit besuchen“, sagt sie, während sie nach ihrem Baby schaut. Sie fummelt an seinem Deckchen herum und legt sich dann wieder auf ihr Handtuch.

Es gibt nichts mehr zu sagen, also wende ich mich wieder meinem Buch zu, lasse aber die junge Frau aus Prag nicht ganz aus den Augen. Ich beende ein Kapitel und greife nach einem Kaugummi. Vielleicht ist es immer noch Interesse, vielleicht aber auch einfach nur Neugierde, aber ich rufe ihr zu: „Wollen Sie einen Kaugummi?“

Sie setzt sich auf und lächelt. „Liebend gern. Meine Kehle ist so trocken.“

Ich versuche, nicht zu ächzen, als ich mich aufrichte. Ich stehe auf, laufe durch den Sand auf sie zu und reiche ihr ein Stück. Sie dankt mir und ich kehre zu meinem Handtuch zurück.

„Ich liebe diesen Strand“, sage ich, laut genug, dass sie es hören kann, als ich mich hinsetze. „Nie überfüllt und es sind immer Rettungsschwimmer da. Lieber haben als brauchen.“

„Ich bin heute zum ersten Mal hier“, sagt sie. „Ich bin erst vor einer Woche aus Chicago hergezogen. Über den Sommer habe ich ein Airbnb gemietet. Morgen fange ich mit der Jobsuche an. Leben Sie hier?“

Ich schüttle meinen Kopf. „Ich bin für ein paar Wochen im Sommerhaus meiner Eltern, während sie in Europa sind. Mein Mann und ich leben in Brooklyn. Ich arbeite für eine Kunstgalerie in Manhattan.“

„Ich liebe Kunst. Und Ihr Mann?“

Ich lächle. „Er ist Schauspieler.“

„Sie haben also einen Filmstar geheiratet“, sagt sie mit einem Grinsen, als sie ihr rechtes Bein hochreckt, den Fuß streckt und das Bein mit den Armen an sich heranzieht.

Ich lache. „Nicht ganz. Daniel wartet noch auf seinen großen Durchbruch. Er hatte die ein oder andere Statistenrolle in ein paar Filmen und Fernsehserien. Er war auch in einigen Off-Off-Broadway-Stücken, aber nichts von Bedeutung. Er verdient sein Geld vor allem mit Modeljobs für Männermode und solchen Sachen.“

„Er muss sehr gut aussehend sein.“

Ich grinse. „Ich finde schon.“

„Haben Sie Kinder?“

Ich presse meine Lippen aufeinander, während ich versuche abzuwägen, wie viel ich von meinem Privatleben mit einer völlig Fremden teilen möchte. Ich beantworte ihre Frage ehrlich, weil mir nach Reden zumute ist und sie nett wirkt. Außerdem werde ich sie wahrscheinlich eh nie wiedersehen.

„Noch nicht“, sage ich. „Wir haben es versucht, aber hatten bisher kein Glück.“ Das scheint ihr Interesse zu wecken, denn sie dreht sich auf die Seite, stützt den Kopf auf die Hand und schaut mich direkt an. Ich habe ihre volle Aufmerksamkeit, also fahre ich fort. „Ich habe diese dumme Sache mit dem Herzen und meine Ärzte wollen, dass ich mich darauf konzentriere.“ Sie nickt und ich lenke die Unterhaltung auf sie zurück. „Sind Sie mit Ihrem Mann hier?“

„Es gibt nur mich und meinen Sohn“, sagt sie, streckt die Hand in den Tragekorb und streichelt ihren Sohn sanft. Ich beobachte diesen zärtlichen Moment zwischen Mutter und Sohn mit einem nagenden Gefühl des Neids. Ich will so sehr Mutter sein.

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht bedrängen“, sage ich und hoffe, dass ich nicht zu aufdringlich war. Ich genieße unsere Unterhaltung. Ich will nicht, dass sie endet, weil ich zu indiskret war oder herablassend klang.

„Kein Problem“, sagt sie und setzt sich auf, um mich anzuschauen. „Ich habe Liams Vater auf einer riesigen Party in Chicago kennengelernt. Er hieß Jack … glaube ich. Ich habe nie seinen Nachnamen erfahren und bin mir auch bei seinem Vornamen nicht zu hundert Prozent sicher. Wir haben uns an der Bar mit Tequila volllaufen lassen, er sah gut aus und wir waren beide betrunken. Also haben wir die Feier früh verlassen und gingen in irgend so ein Hotel. Er zahlte das Zimmer in bar und am nächsten Morgen bin ich gegangen, während er noch schlief. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Sieben Wochen später machte ich einen Test und war schwanger.“

„Liams Vater hat keine Ahnung, dass er einen Sohn hat?“

Die Frau mit dem großen Schlapphut schüttelt den Kopf. „Er war geschäftlich in der Stadt. Er erzählte etwas von einem Freund eines Freundes, der ihn zur Party eingeladen hatte. Er hätte genauso gut verheiratet gewesen sein können. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn wiederzufinden, und ehrlich gesagt, wollte ich es auch nicht.“

„Was ist mit Ihrer Familie, Ihren Eltern?“

Sie lacht auf eine spöttische Art. „Ich habe seit Jahren nicht mehr mit ihnen geredet. Sie hatten andere Vorstellungen davon, wie ich mein Leben zu leben hatte. Ich habe sie einmal angerufen, nachdem Liam geboren war, aber bevor ich ihnen sagen konnte, dass sie einen Enkel haben, machten sie mir deutlich, dass sie nichts mit mir zu tun haben wollten. Bevor ich ihnen von Liam erzählen konnte, hatten sie aufgelegt.“

Mein Herz bricht für die junge Frau und ich suche nach den richtigen Worten. Als ich schließlich den Mund öffne, klingt es ungelenk und unpersönlich. „Es tut mir leid, das zu hören. Es muss eine schwierige Zeit für Sie gewesen sein.“ Igitt.

Sie stößt ein weiteres, sarkastisches Lachen aus. „Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber man tut, was man halt tun muss, um zu überleben, nicht wahr? Ich bin eine Kämpferin.“

Ich nicke solidarisch. „Vielleicht könnten Sie versuchen, sie anzurufen und …?“

„Nein“, sagt sie scharf, bevor ich meinen Satz beenden kann.

Sie tut mir so leid. Sie hat niemanden. Mein Leben ist das genaue Gegenteil. Ich habe unfassbare Unterstützung von meinen Eltern und Daniel. Ich kann mir nicht vorstellen, so komplett allein in der Welt zu sein wie sie. Ich weiß ehrlich nicht, was ich sagen soll, was selten vorkommt.

„Dass die Beziehung zu meinen Eltern in die Brüche ging, ist meine Schuld“, fährt sie fort. „Die Firma meines Vaters versetzte ihn nach Ohio, als ich elf war und mein Bruder sieben. Ohio ist so ganz anders als Tschechien. Wir erhielten alle die amerikanische Staatsbürgerschaft. Während meines letzten Jahres an der High School war ich schon eine waschechte Amerikanerin und erzählte meinen Eltern, dass ich nie wieder zurückkehren würde. Ich wollte feiern und tanzen gehen. Mir gefiel mein Leben hier.“

Ich nicke. Das verstehe ich. Mir gefällt mein Leben hier ebenfalls.

„Es gab viele laute Auseinandersetzungen“, fährt sie fort. „Dann kam ich eines Nachts zugedröhnt nach Hause und mein Vater schlug mich – heftig. Das war das Ende für mich. Am nächsten Morgen brannte ich mit meinem Freund auf seinem Motorrad durch und verschwand. Es gab nichts, was meine Eltern tun konnten. Ich war über achtzehn. Einige Monate später erfuhr ich, dass meine Eltern und mein Bruder nach Tschechien zurückgegangen waren, ohne mich.“

Mir fällt auf, dass die Lebensgeschichte dieser Frau viel spannender ist als der mittelmäßige Liebesroman, den ich lese. Ich stecke das Buch in meine Tasche und wende mich ihr zu, um unserem Gespräch meine volle Aufmerksamkeit zu schenken.

„Vielleicht könnten Sie mit ihnen jetzt in Kontakt treten“, sage ich in vollem Ernst. „Ein Baby verändert die Dinge oft.“

Sie schüttelt den Kopf. „Es ist zu spät. Sie sind jetzt auf der anderen Seite der Welt. Sie haben ihr Leben und ich habe meins. Ich bin übrigens Sasha“, ruft sie und winkt. „Ich mag Ihr Armband.“

„Tori“, sage ich laut und winke zurück, als ich auf das Goldkettchen mit dem Sternanhänger an meinem Handgelenk schaue. „Meine armenische Großmutter hat es mir geschenkt, als ich sechzehn wurde. Ihre Mutter gab es ihr, als sie meinen Großvater heiratete.“

„Man sieht, dass es nicht von hier ist. Es ist ziemlich einzigartig.“

Wir verbringen die nächsten zwanzig Minuten damit, über Millionen verschiedene Dinge zu plaudern. Vom ganzen Hin- und Herrufen spüre ich meine Kehle langsam rau werden und schlage vor, dass wir enger zusammenrücken. Sie nickt und ich ziehe mein Handtuch zu ihr hinüber und wir sprechen über ihre Anstellungsperspektiven.

„Es gibt im Sommer hier eine Menge Jobs im Gastgewerbe“, sage ich. „Die Hamptons sind voll von Touristen mit viel Geld. Du solltest irgendwas finden können.“

Sie grinst. „Viel Geld? Vielleicht finde ich einen reichen Vater für Liam und einen Sugar-Daddy für mich.“

Ich frage mich, ob sie scherzt. „Ich bin mir sicher, dass es nicht einfach ist als alleinerziehende Mutter“, antworte ich.

„Du hast ja keine Ahnung. Kurz nachdem ich meinen Sohn bekommen habe, was ironischerweise am Valentinstag war, wurde ich so depressiv. Ich war komplett allein und die erste Zeit war furchtbar.“

„Fühlst du dich immer noch niedergeschlagen?“

„Es war nicht wirklich Niedergeschlagenheit, als mehr ein Gefühl des Nichts. Ich hatte dieses wunderschöne Baby, aber im Inneren war ich völlig leer. Die ersten paar Wochen nach seiner Geburt waren schrecklich. Mittlerweile geht es mir viel besser. Ich versuche, mich mehr um mich selbst zu kümmern, genug Schlaf zu bekommen und mich regelmäßig massieren zu lassen. Das hilft viel.“

Ich nicke. Ich liebe Massagen ebenfalls, das kann ich also nachvollziehen.

„Gestern“, sagt sie und wird lebendiger, „hatte ich die beste Massage in der ganzen Stadt von so einer Frau namens Chloe. Kennst du sie? Sie hat einen kleinen Laden in der Einkaufsmeile neben dem Bauernmarkt. Ich sage nur zwei Worte – magische Finger. Als ich aus ihrem Laden raus bin, war ich eine völlig neue Frau. Du musst dahin gehen.“

Ich mache mir eine mentale Notiz zu ‚Chloe mit den magischen Fingern‘ beim Bauernmarkt, weil ich immer auf der Suche nach einer guten Massage bin. Wir sitzen eine Weile schweigend zusammen und schauen aufs Meer. Dann breche ich die Stille.

„Also, morgen beginnst du mit der Jobsuche?“

„Erstmal muss ich einen Gebrauchtwagen kaufen. Dann suche ich nach einem Job. Man kann hier nicht ohne Auto arbeiten. Öffentliche Verkehrsmittel sind rar gesät.“

„Wie bist du heute hergekommen?“

„Wir sind mit dem Bus aus dem Ortskern gekommen.“

„Mit den ganzen Babysachen?“

Ihr Sohn beginnt zu quengeln. Sasha nimmt eine Flasche aus ihrer Tasche und hebt ihn aus seinem Tragekorb. Sie wiegt ihn in ihren Armen und steckt den Aufsatz in seinen gierigen Mund. Zum ersten Mal sehe ich ihn in seiner ganzen Pracht und er ist absolut zum Anbeißen.

„Er ist perfekt“, sage ich.

„Er ist ein leichtes Baby. Schläft die Nächte durch und alles. Willst du ihn halten?“

Entzückt nehme ich den kleinen Jungen in meine Arme und füttere ihm den Rest seiner Flasche. Als er ausgetrunken hat, wird er schläfrig. Ich reiche ihn seiner Mutter zurück, die ihn über die Schulter legt, wartet, bis er ein Bäuerchen gemacht hat, und ihn dann zurück in seine provisorische Strandkrippe zurücklegt.

Es ist jetzt Mittag, die Sonne steht hoch am Himmel und es wird heißer. Der Baum bietet nicht mehr so viel Schutz und es ist nur noch ein kleines Stück Schatten zwischen uns übrig.

„Kann ich dich um einen riesigen Gefallen bitten?“, fragt Sasha und wischt sich über die Brauen, während sie mich über den Rand ihrer Brille anschaut.

„Klar.“

„Ich bin am Verbrutzeln. Da Liam schläft, würde es dir etwas ausmachen, ein paar Minuten auf ihn aufzupassen, sodass ich kurz zum Abkühlen ins Wasser springen kann? Wäre das okay? Ich schwimme ein paar Bahnen und komme direkt zurück.“

Ihre Bitte verwundert mich ein wenig, immerhin kennt sie mich kaum. Was für eine Mutter lässt ihr Kind bei einer völlig Fremden am Strand zurück? Klar, wir haben uns fast zwei Stunden lang unterhalten, also bin ich, technisch gesehen, keine Fremde. Und, wenn ich ehrlich bin, war unsere Unterhaltung so vertraut, dass ich mehr über Sasha weiß als über einige Leute, die ich seit Jahren kenne.

„Kein Problem“, sage ich, erfreut, dass sie mir so vertraut. „Lass dir Zeit. Ich liebe Babys.“

Kapitel 2

Sasha steht auf, legt ihren Hut und die Sonnenbrille ab und wirft beides auf ihr Handtuch. Sie zieht ein pinkes Zopfgummi von ihrem Handgelenk und bindet ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann zieht sie eine knallpinke Badekappe aus ihrer Tasche, unter der sie kunstvoll ihr Haar versteckt, setzt eine Schwimmbrille auf und rückt die Träger ihres Badeanzugs zurecht.

Sie will gerade gehen, da schaut sie auf zum Himmel und zieht eine Grimasse. „Mist, ich habe meine Sonnencrème vergessen.“

„Ich habe welche“, sage ich und reiche ihr eine blaue Flasche mit Lichtschutzfaktor siebzig. Sie verteilt die Crème auf ihrem Gesicht, ihrem Nacken, den Armen und den Handrücken und wirft sie mir dann zurück.

„Danke, Tori. Du bist meine Rettung. Ich bin in zehn Minuten zurück“, bedankt sie sich, als sie sich auf den Weg zum Wasser macht.

Von meinem Sitzplatz etwas abseits, leicht erhöht bei den Dünen, habe ich eine gute Aussicht auf das Wasser und den gesamten Strand. Mein Blick folgt Sasha in die Ferne, während sie ins Wasser geht. Dann schaue ich hinab auf den immer noch schlafenden Liam und lächle.

Als ich wieder aufschaue, ist Sasha bis zu den Knien im Wasser und watet tiefer hinein. Sobald es ihre Taille erreicht, taucht sie in eine sich leicht kräuselnde Welle und beginnt zu schwimmen. Weil das Meer heute ein bisschen aufgewühlt ist, sind die gelben Flaggen aufgestellt. Ich beobachte, wie sie über die Stelle hinausschwimmt, wo sich die Wellen brechen, damit sie ungestört parallel zum Strand ihre Bahnen ziehen kann. Ihre Badekappe hüpft rhythmisch über das Wasser und ich bemerke ihre gute Technik und die starken, gleichmäßigen Züge ihrer Arme. Sie schwimmt bis ganz ans linke Ende des Strands, wendet und nimmt den gleichen Weg zurück nach rechts. Ich beobachte ihr Hin und Her mehrere Minuten lang, bis Liam ein Geräusch von sich gibt. Er ist wach. Ich krame den Schnuller aus Sashas Tasche hervor, den ich ihm geben soll. Vorsichtig hebe ich das Baby hoch und wiege es in meinen Armen. Er öffnet seinen Mund und wird sofort ruhig, sobald sich seine Lippen um das Silikon schließen.

Ich begutachte sein Gesicht und bewundere, wie perfekt er ist, als ein langer lauter Pfiff gefolgt von vier kurzen die Luft zerfetzt. In der Ferne sehe ich die Rettungsschwimmer von ihren hohen weißen Stühlen springen und mit den Armen winken. Ich schaue hinaus aufs Meer. Einige Leute kommen aus dem Wasser, aber die pinke Badekappe kann ich nicht entdecken. In einem Versuch, meine Augen vom grellen Sonnenlicht abzuschirmen, hebe ich eine Hand und suche das Wasser ein zweites Mal ab, aber ich sehe keine pinke Kappe. Während einer der Rettungsschwimmer den Menschen signalisiert, aus dem Weg zu gehen, schnappen sich die anderen ihre Schwimmbretter und hasten in die Brandung. Überall am Strand stehen die Leute auf und bewegen sich auf das Meer zu. Sie bilden eine Mauer entlang des Ufers und blockieren damit meine Sicht. Ich kann die pinke Kappe nicht finden. Ich kann Liams Mutter nicht finden.

In dem verzweifelten Versuch herauszufinden, was los ist, hebe ich das Baby hoch und nehme es fest in die Arme, während ich mich auf das Ufer zubewege. Unterwegs versuche ich von den anderen Strandgästen Informationen zu bekommen. Als ich näherkomme, herrscht im Wasser pures Chaos. Die Rettungsschwimmer suchen verzweifelt nach jemandem. Neben mir telefoniert ein Mann und ich spreche ihn an.

„Ist jemand ertrunken?“, frage ich und schließe meine Arme fester um das Baby.

„Sieht so aus“, antwortet er nur und wendet sich wieder seinem Telefonat zu.

Eine Welle der Übelkeit überkommt mich, als ich das zunehmende Chaos im Wasser beobachte. Inzwischen ist jeder am Strand dicht herangekommen und mehrere Zuschauer waten ins Wasser, um bei der Suche zu helfen. Wie festgefroren klammere ich mich an dem Baby fest.

„Sehen Sie die Felsenzunge da drüben?“, spricht mich eine ältere Dame an und zeigt auf eine eindrucksvolle Steinformation. „Wenn die Strömungen sehr stark sind, kann der Sog hier so heftig sein, dass er eine Person genau gegen diese Steine schleudert. Ich wette, das ist mit ihr passiert.“

Mit wem passiert? Mit Sasha? Wo zur Hölle ist Liams Mutter?

Als die Minuten verstreichen und Sasha nicht auftaucht, werde ich panisch. Es ist bestimmt eine Viertelstunde her, seit ich ihre pinke Badekappe zuletzt in den Wellen sah. Das Baby windet sich jetzt in meinen Armen. Seine weiche Haut fühlt sich so schön an, als er sich an meinen Hals schmiegt. Falls es Sasha gut geht, sucht sie mich und das Baby jetzt gerade. Aber ich kann sie nicht entdecken und so langsam befürchte ich das Schlimmste.

Eine junge Frau, die versucht hatte, den Rettungsschwimmern zu helfen, verlässt die Brandung und läuft den Strand hinauf auf mich zu.

„Was ist los?“, rufe ich, als sie an mir vorbeikommt.

„Nichts Gutes. Ich weiß nur, dass irgendeine Frau mit pinker Kappe untergegangen ist. Die Strömung ist schlimm heute, hat mich auch fast runtergezogen. Deswegen bin ich raus. Sie muss ertrunken sein.“

Meine Beine scheinen unter mir nachzugeben und meine Arme fühlen sich auf einmal zu schwach für das Gewicht des Babys an. Ich muss ihn absetzen oder ich kippe um und lasse ihn womöglich noch fallen. Eine Million verrückte Ideen kreisen in meinem Kopf. Ich zwinge mich dazu, zu meinem Handtuch zurückzugehen, während ich versuche, meine Gedanken zu ordnen.

Meine Augen füllen sich mit Tränen, als ich das süße Baby in seinen Tragekorb setze. Am Kopfende des tragbaren Autositzes ist ein Schirm, den ich herunterziehe, um ihn vor der Sonne zu schützen. Er schaut mit unschuldigen, vertrauensvollen Augen zu mir auf. Er weiß nicht, dass er gerade seine Mutter verloren hat.

Mit einem tiefen Atemzug lasse ich den Blick erneut über das Wasser gleiten, immer noch auf der Suche nach dem hüpfenden pinken Kopf. Wo bist du, Sasha? Du hast mir deinen Sohn anvertraut. Was soll ich jetzt tun?

Ich werde aus meiner Trance gerissen, als das Baby anfängt zu weinen. Ich lehne mich hinunter und hebe ihn hoch. Mit Sashas Kind im Arm beobachte ich weiter die offenbar erfolglosen Rettungsversuche in den Fluten. Da trifft mich die schreckliche Realität – Sasha ist wahrscheinlich tot, was bedeutet, dass das Baby, das ich halte, eine Waise ist.

Während mein Gehirn noch die entsetzlichen Ereignisse zu verarbeiten versucht, läuft mein Körper auf Autopilot. Ohne es zu realisieren, habe ich bereits Sashas und meine Handtücher in die Strandtaschen gestopft. „Was tust du da?“, fragt eine Stimme in meinem Kopf, als ich mir ihren Schlapphut und ihre Sonnenbrille aufsetze. Was tue ich da? Es ist, als würde jemand anderes mich steuern und ich nur Anweisungen befolgen. Gleichzeitig pocht mein angeblich so schwaches Herz so verdammt heftig, als wollte es meine Rippen sprengen. Schweiß tropft von meiner Stirn, als ich weiter zusammenpacke. Habe ich eine Wahl? Sasha muss tot sein. Ich kann das Baby nicht hierlassen. Sie hat ihn mir anvertraut.

Für den Bruchteil einer Sekunde halte ich inne und lasse mein Leben Revue passieren. Drei Jahre lang haben Daniel und ich versucht, schwanger zu werden. Als mir die Ärzte letztendlich mitteilten, dass eine erneute künstliche Befruchtung wegen meiner medizinischen Situation nicht zu verantworten sei, waren wir am Boden zerstört. Die einzige Möglichkeit, die wir noch hatten, war, unsere Namen auf eine Warteliste für eine Adoption zu setzen. Das taten wir, aber die Agentur sagte uns, dass es Jahre dauern könnte.

Ich sammele alles vom Sand auf und schaue hinüber zum entfernten Parkplatz hinter mir. Tue ich das hier gerade wirklich? Was, wenn Sasha doch nicht tot ist? Vielleicht ist sie eine der Personen, die im Wasser helfen, eine andere Vermisste zu finden? Vielleicht ist sie am Leben?

In der vagen Hoffnung, doch noch ihre hüpfende pinke Kappe zu entdecken, lasse ich meinen Blick ein letztes Mal über das Meer gleiten. Ich finde sie nicht. Ich will mich gerade auf den Weg zu meinem Auto machen, als ein junges Paar ins Gespräch vertieft an mir vorbeikommt.

„Sie ist sicher tot“, sagt der junge Mann laut zu seiner Freundin. „Sie kann nicht mehr am Leben sein. Ist zu lange her.“

Ich überlege, bevor ich weitergehe.

Ich habe Sasha versprochen, mich um ihren Sohn zu kümmern. Daran muss ich mich halten, oder? Dieses Baby hat keine Familie. Wenn ich ihn der Polizei übergebe, wird er direkt in ein Heim gesteckt. Das kann ich nicht zulassen.

Ich hänge Sashas Wickeltasche an den Griff des Tragekorbs und schaue hinab. Liam lächelt mich an, als ich ihn hochhebe.

„Ich werde nicht zulassen, dass sie dich holen“, versichere ich ihm sanft, als ich die kurze Wanderung zum Auto in Angriff nehme. Sekunden später stürmt die Polizei auf den Strand und ich verliere beinahe die Fassung. Ich atme tief durch. Jede Faser in meinem Körper ist angespannt, aber ich gehe weiter an ihnen vorbei zu meinem Wagen.

Als ich endlich auf der Straße bin, verfalle ich schließlich komplett in Panik und mir kommen erste Zweifel. Ich könnte immer noch das Jugendamt verständigen. Es wäre kein Verbrechen begangen worden. Ich hätte ein verlassenes Baby vom Strand gerettet und wäre eine Heldin, eine gute Samariterin.

Ich fahre weiter den Highway entlang, von gegensätzlichen Gefühlen hin- und hergerissen. Dieses wundervolle Kind hat niemanden. Sein Vater und seine Großeltern wissen nicht, dass er existiert. Die Verwaltung von Suffolk County wird ihn definitiv ins Heim stecken, was lebenslanges Leid bedeutet. Ich kann nicht zulassen, dass das diesem süßen kleinen Jungen widerfährt.

Ein Auto überholt mich und hupt. Ich bin weit unter der Geschwindigkeitsbegrenzung, also drücke ich aufs Gas. Ich will keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen.

Es ist meine moralische Verpflichtung, ihn mit nach Hause zu nehmen. Ich kenne die Geschichten darüber, was mit Waisen in diesem Land geschieht. Wenn dieses süße Kind in das System rutscht, wird er von einem schrecklichen Ort an den nächsten verfrachtet. Er wird vernachlässigt werden oder Schlimmeres. Was für ein Monster wäre ich, ihn diesem Schicksal auszusetzen.

Gurrende Geräusche kommen vom Rücksitz und ich schaue in den Spiegel. Als ich sein kleines Gesicht sehe, schmilzt mir praktisch das Herz. Ein paar Blöcke vom Haus meiner Eltern entfernt halte ich am Straßenrand und schalte den Motor aus. Daniel und ich haben so viel durchgemacht – die ganzen künstlichen Befruchtungen, nur um dann bitter enttäuscht zu werden, als nichts daraus wurde. Nach all den Tests und dem Herumgestochere in meinem Körper sagten mir die Ärzte, dass die dazugehörigen Medikamente bei meinem Herzfehler zu riskant wären. Scheiß auf mein blödes Herz.

Eine Träne rinnt aus meinem rechten Auge auf meine Wange. Ich wische sie weg, hole mein Handy heraus und tippe hastig die Nummer meines Mannes ein. Es klingelt viermal, bevor er rangeht.

„Daniel, du wirst nicht glauben, was passiert ist. Ich habe großartige Neuigkeiten“, sage ich. „Die Adoptionsvermittlung hat angerufen. Sie haben ein vier Monate altes Baby für uns. Ich bin gerade auf dem Weg, ihn abzuholen. Daniel, hörst du das? Du wirst Vater.“

Kapitel 3

Ich fahre auf das Stoppschild zu, das an der Kreuzung zu der Straße steht, in der meine Eltern wohnen, und biege scharf links ab. Dort, auf einem Hügel, befindet sich ihr charmantes, altes, weitläufiges Landhaus. Von ihrem Garten aus kann man den Ozean sehen. Mein Wohlfühlort.

Gerade, als ich in ihre Einfahrt abbiegen will, sehe ich einen leeren, blauen Toyota-Zweitürer rechts neben der Garage stehen. Ich bremse abrupt. Meine Eltern sind nicht da und haben auch kein solches Auto. In meinem Kopf klingeln die Alarmglocken.

Jemand sucht nach dem Baby. Sie wissen Bescheid.

Ich fahre links auf die Einfahrt und schalte den Motor ab. Unsicher, was mich erwartet, rufe ich aus dem offenen Autofenster. „Hallo?“, sage ich mehrmals, aber niemand antwortet mir.

Ich steige aus dem Auto und hole meine besondere Fracht von dem Rücksitz. Vorsichtig trage ich das Baby den Fußweg hinauf. Die Haustür ist angelehnt und ich spüre, wie mein kaputtes Herz stärker schlägt. Das Geräusch eines laufenden Motors kommt aus dem Inneren des Hauses. Ich sollte umdrehen, mich wieder ins Auto setzen und die Polizei rufen, schließlich habe ich keine Ahnung, wer da im Haus meiner Eltern ist. Aber ich kann nicht die Polizei rufen. Nicht jetzt. Niemals. Nicht nachdem, was ich gerade getan habe. Ich drücke die Tür auf.

„Hallo?“, frage ich, als ich durch das Foyer gehe und dem dröhnenden Geräusch folge. Als ich zum Durchgang ins Wohnzimmer komme, sehe ich eine blonde Frau mittleren Alters, die den Teppich staubsaugt. Der Motor ist zu laut, als dass sie mich hören könnte. „Hallo“, rufe ich erneut und winke, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.

Sie zuckt zurück, als sie mich entdeckt, und schaltet das Gerät aus.

„Wer sind Sie?“, frage ich.

„Ich bin Eva. Ich bin die Reinigungskraft. Wer sind Sie?“, fragt sie mit einem misstrauischen Blick und macht einen weiteren Schritt zurück, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern.

Ich zeige auf ein altes Familienfoto auf dem Kaminsims. Es ist ein achtunddreißig Jahre altes Bild von mir im Alter von fünf Jahren mit meinen Eltern in ihren Dreißigern. Mom ist wie immer gestylt wie das Model, das sie mal war – aschblondes Haar und perfekte Knochenstruktur. Mein Vater sieht nur ernst aus. Er ist kein gut aussehender Mann, aber macht es damit wieder wett, dass er eine Naturgewalt ist, die anziehend auf Frauen wirkt. Er ist kleiner als meine statuenhafte Mutter und hat eine mediterrane Bräune, Schlupflider und eine Menge speckiger Haut in seinem Gesicht.

„Ich bin Tori Petrosian, mittlerweile Tori Fowler. Die Petrosians sind meine Eltern.“

Eva nimmt das Bild in die Hand und studiert es, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Schließlich entspannen sich ihre Gesichtszüge erleichtert. Ich nehme an, sie ist zu dem Schluss gelangt, dass ich nicht ins Haus gekommen bin, um sie umzubringen.

„Ich sehe die Ähnlichkeit jetzt. Sie sehen wie Ihr Vater aus“, sagt sie, während sie mich mustert.

Eva trifft den Nagel auf den Kopf. Ich bin meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Nicht eines der äußerlichen Merkmale habe ich von der deutsch-italienischen Schönheit geerbt, die meine Mutter ist. Ich bin zu einhundert Prozent Petrosian. Die Leute sagen mir zwar immer, dass ich attraktiv bin und schöne Haare habe. Aber Attraktivität und Schönheit sind zwei verschiedene Dinge. Nach jahrelanger Therapie habe ich endlich eingesehen, dass ich dafür andere Vorzüge habe, die meine Mutter nicht hat. Es ist nicht leicht, durchschnittlich gutaussehend zu sein, wenn die eigene Mutter so bildschön ist. Mittlerweile komme ich damit klar, aber es hat lange gebraucht.

„Meine Eltern haben mir nicht gesagt, dass jemand hier vorbeikommen würde“, sage ich, noch nicht ganz überzeugt von ihr.

„Ich putze jeden zweiten Mittwoch, egal ob bei Regen oder Sonnenschein.“

„Aber sie sind den ganzen Sommer weg.“

„Ich gieße die Pflanzen, prüfe, dass nichts ausläuft, und wische Staub. Es wird sehr staubig hier. Ihre Mama mag es, wenn alles perfekt aussieht.“

Jemanden ein leeres Haus putzen zu lassen, erscheint mir doch ein wenig extravagant. Aber meine Eltern haben inzwischen mehr Geld, als sie ausgeben können. Wenn es sie glücklich macht, ein sauberes Haus zu haben, wenn sie nicht da sind, sollen sie es doch machen.

„Ich wusste nicht, dass Mr und Mrs Petrosian Enkelkinder haben.“

Ich lächle. Sie denkt, dass das Kind meins ist und meine Eltern seine Großeltern sind. Das wird funktionieren.

„Können Sie etwas für sich behalten? Die Wahrheit ist, Eva, meine Eltern wissen noch nichts. Ich habe ihn heute von der Adoptionsvermittlung abgeholt. Es kam wie aus dem Nichts. Mein Mann wusste es auch nicht. Er ist geschäftlich in Kalifornien. Ich hab ihn gerade angerufen und ihm gesagt, dass er Vater ist.“

Sie lächelt und geht auf uns zu, um meinen Sohn zu bewundern. „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“

„Ein Junge.“

„Er ist sehr hübsch. Herzlichen Glückwunsch. Wie heißt er?“

Ich lächle erneut. „Ich weiß es nicht. Es ist alles so schnell gegangen. Natürlich werde ich mit meinem Mann über seinen Namen sprechen müssen, aber ich denke, dass ich ihn Jonah nennen werde. Was meinen Sie? Jonah Fowler. Das klingt doch sehr gut, oder nicht?“

„Das ist ein guter, starker Name aus der Bibel.“

Nach einigen weiteren Minuten höflicher Unterhaltung wendet sich Eva wieder ihrer Arbeit zu und ich bringe das Baby in die Küche. Das Erste, was ich mache, ist durch Sashas Windeltasche zu wühlen, um zu sehen, was sie mir hinterlassen hat. Drei saubere Windeln sind da, was gut ist, denn meine Nase sagt mir, dass Jonah eine neue Windel braucht, und zwar zügig. In einer der Seitentaschen finde ich ein Glas Babynahrung, einen Löffel, eine Packung Feuchttücher, ein paar leere Babyflaschen und einige Rasseln und sonstige Spielzeuge.

Ich nehme das Strandtuch raus, falte es in der Mitte, breite es auf dem Küchentisch aus und lege meinen Sohn vorsichtig darauf ab. Ich knöpfe seine Hose auf, entferne die benutzte Windel, säubere ihn, binde ihm eine neue um und knöpfe die Hose wieder zu. Er schaut zu mir auf und lächelt. Er weiß schon, dass ich seine Mutter bin. Ich lege ihn mir auf die Schulter. Sein weicher, kleiner Körper fühlt sich so wunderbar an.

„Ich werde immer auf dich aufpassen und dich beschützen, süßer Jonah. Egal, was passiert“, wispere ich ihm ins Ohr. Während ich ihn sanft wippe, mache ich im Kopf eine Liste mit all den Dingen, die ich für ein Baby besorgen muss. Ich habe kein Kinderbett, Babynahrung oder sonst etwas. Ich google „Babymöbel Verleih“ und innerhalb von zehn Minuten habe ich arrangiert, dass heute Nachmittag eine Krippe, ein Wickeltisch, ein Hochstuhl und eine Schaukel geliefert werden.

Ich bin selbst sehr zufrieden mit meinem Einfallsreichtum, bis Jonah anfängt zu weinen. Außer der halbvollen Flasche mit Babymilch und einem Glas pürierter Pfirsiche habe ich keine Nahrung für ihn. Und nach draußen an die Öffentlichkeit kann ich mit ihm nicht gehen. Was, wenn ihn jemand erkennt? Der Staubsauger wird wieder eingeschaltet, diesmal in einem anderen Teil des Hauses, und erinnert mich daran, dass die Reinigungskraft immer noch hier ist.

Mit Jonah auf meiner Schulter begebe ich mich auf die Suche nach Eva und finde sie unter dem Esszimmertisch. Ich winke ihr zu, dass sie das Gerät ausschaltet.

„Eva, ich habe einen kleinen Job für Sie, wenn das okay ist. Wie Sie wissen, war die Adoption sehr plötzlich. Da meine Eltern und mein Mann nicht da sind, muss ich einmal ins Dorf fahren und das Wesentliche einkaufen wie Windeln und Babynahrung. Das sollte nur etwa eine Stunde dauern. Könnten Sie wohl auf Jonah aufpassen? Ich zahle Ihnen einhundert Dollar dafür.“

Ihre Augen leuchten auf und sie streckt die Arme aus. „Geben Sie ihn mir und erledigen Sie, was Sie erledigen müssen. Ich habe keine Eile.“

Eine Sekunde lang zögere ich. Ich händige mein Baby einer Fremden aus, aber ich habe nicht wirklich eine Wahl. Er benötigt Essen und Windeln, also muss ich die Gelegenheit nutzen. Ich küsse Jonah auf den Schopf und lege ihn in ihre Arme. Als sie ihn umarmt, schwinden meine Ängste … ein wenig.

„Ich werde mich so gut es geht beeilen“, sage ich, greife nach meinem Portemonnaie und den Autoschlüsseln und reiche ihr die halbleere Flasche mit Babymilch, sein letztes Essen.

„Keine Sorge, es wird alles gut gehen“, sagt sie und setzt sich mit Jonah auf ihrem Schoß in einen Lehnsessel im Wohnzimmer. Ich gebe ihr zwei der Rasseln aus der Windeltasche und gehe zur Haustür. „Meine Handynummer liegt auf dem Küchentisch. Wenn es irgendein Problem gibt, rufen Sie mich an und ich komme sofort zurück.“

Ich fahre zu unserem örtlichen Gemischtwarenladen mit Drogerieabteilung und mache eine grobe Liste in meinem Kopf mit allen Dingen, die man für ein Baby braucht. Wie sehr sich doch mein komplettes Leben in den letzten Stunden verändert hat, staune ich, als ich auf den Parkplatz fahre. Heute Morgen war mein einziger Plan, den ganzen Tag am Strand zu liegen und ein schlüpfriges Buch zu lesen. Stattdessen traf ich auf Sasha. Ich mochte sie sofort und dachte, wir könnten vielleicht Freundinnen werden. Dass sie ertrunken ist, tut mir wirklich leid. Sie war so jung. Ich tat, was ich musste. Ich konnte nicht zulassen, dass Jonah ins Kinderheim geht.

Eine Mutter zu sein verändert alles. Mit Jonah ist unsere Familie komplett. Nun können Daniel und ich glücklich und zufrieden leben, mit unserem neuen Sohn.