Leseprobe All the scars between us | Ein Romantic Suspense Roman

Prolog

»Mr. Woodard?«, drang die Stimme der Sekretärin gestochen scharf durch die hypermoderne, sündhaft teure Sprechanlage. Grant Woodard blickte von den Unterlagen auf seinem Schreibtisch auf. »Bei mir ist eine Mrs. Muldoon, Sir. Sie möchte Sie sprechen, hat aber keinen Termin …«

»Ist schon in Ordnung, Rosa. Schicken Sie sie rein.« Grant unterbrach die Verbindung mit einem Tastendruck, lehnte sich in seinem Chefsessel zurück und strich sein Sakko glatt. Er erhob sich, als seine Mitarbeiterin die Zwischentür öffnete und eine untersetzte Frau mittleren Alters in sein Büro führte. »Margo«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln. Er umrundete den Schreibtisch, um sie zu begrüßen. »Wie schön, Sie zu sehen. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Margo Muldoon setzte sich. Den Kaffee, den die Sekretärin ihr anbot, lehnte sie dankend ab. Sie wusste aus Erfahrung, dass Grant Woodards Herzlichkeit nur aufgesetzt war. Die Knie fest zusammengepresst, die Hände nervös um die Bügel einer Riesenhandtasche geklemmt, wartete sie, bis seine junge Assistentin aus dem Zimmer glitt und geräuschlos die Tür hinter sich zuzog. Gleich darauf beugte Margo sich vor und kam ohne Umschweife auf den Anlass ihres Besuchs zu sprechen. »Miss Emma ist nicht mehr da, Sir.«

»Was meinen Sie damit, sie ist nicht mehr da?«, gab Grant ärgerlich zurück, seine joviale Freundlichkeit wie weggeblasen. »Ich zahle Ihnen gutes Geld dafür, dass Sie ein Auge auf das Mädchen haben, Muldoon.«

»Ich weiß, Sir, aber ich dachte, sie wäre bei Ihnen. So lautete jedenfalls die Nachricht, die sie am Freitagmorgen für mich dagelassen hat.«

»Was genau stand darin?«

»Dass sie und Miss Gracie das Memorial-Day-Wochenende zusammen mit Ihnen auf dem Land verbringen wollten. Erst als sie heute Morgen immer noch nicht zurückgekehrt war, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Allerdings dachte ich da noch, sie hätte vielleicht bei Ihnen im Gästezimmer übernachtet.« Mrs. Muldoon rang die Hände. »Aber als ich bei Ihnen anrief, erklärte Ihre Haushälterin, sie hätte Miss Emma und Miss Gracie seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Dann sagte sie noch, als Miss Emma zuletzt da gewesen sei, habe sie eine geschlagene Stunde in Ihrer Bibliothek auf Sie gewartet. Schließlich sei sie wieder nach Hause gefahren, weil Sie nicht kamen.«

Eine eiskalte Gänsehaut kroch über Grants Rücken. Emma hatte eine Stunde lang in der Bibliothek auf ihn gewartet? Wieso zum Teufel erfuhr er das erst jetzt? Verfluchter Mist – ich zahle diesen unfähigen Banausen Topgehälter, und bei der kleinsten Kleinigkeit machen sie nur Murks. »Haben Sie das Video von dieser Woche dabei?«

»Ja Sir, Mr. Woodard.« Margo Muldoon öffnete ihre Tasche. Als sie das gewünschte Objekt nicht schnell genug zum Vorschein brachte, schnippte Grant ungehalten mit den Fingern. Zunehmend nervöser wühlte sie in den Tiefen ihres Beutels, bis sie das Videoband endlich fand.

Sie schob es über den Schreibtisch. Worauf Grant sie mit einem knappen Nicken und einer ungeduldigen Handbewegung aus dem Zimmer scheuchte.

Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, betätigte er die Sprechanlage. »Rosa, mir ist was dazwischengekommen. Sagen Sie für heute Nachmittag sämtliche Termine ab.« Bevor er die Verbindung abbrach, hatte er eine plötzliche Eingebung. »Ach, und noch etwas, rufen Sie Hackett an. Er soll umgehend zu mir nach Hause kommen.«

»Selbstverständlich, Mr. Woodard.«

***

Zwanzig Minuten später betrat er die Bibliothek seines Hauses. Durchquerte den Raum und ging zielstrebig zu der verschlossenen Mahagonivitrine, in der er seine Videosammlung aufbewahrte. Tastete nach dem Schlüssel, der hinter einer holzgeschnitzten Zierleiste versteckt lag, und schloss die Glastüren auf.

Wie er erleichtert feststellte, schien nichts zu fehlen. Zweifellos hatte Emma nicht sein Archiv durchstöbert; wieso sollte sie auch? Er machte sich einen Drink und legte das neueste Video ein, das ihm Mrs. Muldoon mitgebracht hatte. Mit der Fernbedienung bewaffnet, verfolgte er gönnerhaft grinsend, was sich auf dem Bildschirm abspielte.

Unvermittelt gefror sein Grinsen. Er hielt das Band an. Starrte auf den Stapel Videos, die auf dem Bett lagen, neben dem Koffer, den Emma gerade packte.

Kalte Wut breitete sich in seinen Eingeweiden aus. Abermals lief er zu der Vitrine. Riss willkürlich eine Videobox heraus, klappte sie auf. Das Tape war noch da. Das nächste auch. Die dritte Box war leer.Er warf sie zu Boden, ging hektisch die gesamte Sammlung durch, bis er sich einen Überblick verschafft hatte. Sechs Kassetten fehlten.

»Dieses Miststückl«

Es klopfte. Grant fuhr sich mit den Fingern durch die silberweißen Haare und betrachtete schulterzuckend die ringsum verteilten Videohüllen auf dem Teppich. Um dieses Chaos sollte sich gefälligst sein unfähiges Personal kümmern. Er durchquerte den Raum und riss die Tür auf.

»Hi, Boss.« Hackett schlenderte ins Zimmer. »Rosa meinte, Sie wollen mich sprechen?«

»Setzen Sie sich.« Grant ging zu dem Wandtresor und positionierte sich so, dass der Mann nicht mitbekam, welche Kombination er eingab. Dem geöffneten Safe entnahm er ein Bündel Geldscheine. Fächerte sie mit dem Daumen durch wie ein Kartenspiel und knallte sie vor Hackett auf den Schreibtisch, bevor er erneut in seinen Sessel sank.

»Emma ist abgehauen und hat etwas mitgenommen, was mir gehört.« Sein stahlharter Blick bohrte sich eiskalt in die Augen seines Angestellten. »Das hier ist für Ihre Ausgaben.« Er deutete auf das Geld. »Ich will, dass Sie sie finden«, fuhr er mit Bestimmtheit fort. »Am besten schon gestern, Hackett.«

1

Emma schimpfte leise. Na, toll. Ausgerechnet jetzt musste die Karre verrückt spielen. Kaum zehn Minuten zuvor hatte sie die Washington-State-Fähre verlassen. War in der herrschenden Hektik heimlich auf einer Insel von Bord gefahren statt wie gebucht auf dem Festland. Sie wusste nicht einmal, ob es auf dieser Mini-Insel einen richtigen Ort gab, geschweige denn eine Werkstatt mit einem fähigen Automechaniker. Der Motor stotterte lauter, und Emma fürchtete schon, dass er sich in Kürze ganz verabschieden würde.

»Zu McDonald’s?«, fragte Gracie hoffnungsvoll auf dem Beifahrersitz. Der Mordslärm im Auto schien die Kleine überhaupt nicht zu stören.

»Ich glaube nicht, dass es hier ein McDonald’s gibt, Herzchen«, antwortete Emma. Lächelnd streckte sie die Hand aus und streichelte ihrer Tochter zärtlich über die Wange. »Aber wir finden bestimmt was Nettes, wo wir essen können.« Das hoffte sie zumindest inständig.Immerhin fanden sie einen malerischen Ort namens Port Flannery, der sich zu beiden Seiten des Hafenbeckens erstreckte. Auch die dunkle, tief hängende Wolkendecke, die ein drohendes Gewitter ankündigte, nahm dem hübschen Idyll nichts von seinem Reiz. Es herrschte Ebbe, das Meer war weit zurückgewichen. An den Docks am Kai entdeckte Emma ein Bootshaus, nicht weit entfernt davon eine Tankstelle, ein Lebensmittelgeschäft, mehrere Souvenirläden und eine Kneipe. Weiter oben einen größeren Platz, den das Rathaus und weitere Geschäfte umstanden, und gottlob auch eine Werkstatt. Emma parkte den Chevrolet direkt vor Bill’s Garage.

»Soso, Sie meinen, der Chevy zickt ein bisschen rum, hm?«, wurde sie kurz darauf von einem Mann gefragt, auf dessen ölverschmiertem Overall der Name Bill eingestickt war. Er wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab und beugte sich über den Motor.

»Ein bisschen ist gut«, meinte Emma trocken. »Und er macht einen Mordslärm. Ich denke, es liegt an …«

»Ach was, zerbrechen Sie sich deswegen mal nicht Ihr hübsches Köpfchen«, unterbrach er sie in so herablassendem Ton, dass sich Emma sämtliche Nackenhaare sträubten. Sie öffnete die Lippen, um ihm gehörig über den Mund zu fahren, hatte aber nicht mit Gracie gerechnet, die ausgerechnet in diesem Augenblick unruhig auf ihrem Arm herumzuzappeln begann.

»Ich hab Hunger, Maman«, maulte die Kleine und trommelte mit ihren Füßen gegen Emmas Hüften.

Bill hob den Blick bis zu Emmas Brüsten. »Da hinten auf dem Platz ist ein Café«, meinte er hilfsbereit. »Da können Sie eine Kleinigkeit essen. In der Zwischenzeit mach ich mich schlau, was mit Ihrem Wagen los ist.«

Emma biss die Kiefer aufeinander. Am liebsten hätte sie Bill kräftig zusammengestaucht, aber Gracie blieb hartnäckig. Und ihr selbst knurrte offen gestanden ebenfalls der Magen, also gab sie seufzend nach. Sie stellte Gracie auf die Füße und fasste ihre Hand. Augenblicke später überquerten sie den parkähnlichen Platz und erklommen die Eingangsstufen zu einem größeren, schindelgedeckten Gebäude. Ruby’s Café blinkte die rote Neonreklame über dem Frontfenster mit den hübschen blauweiß karierten Gardinen.

Als sie das Gasthaus wieder verließen, fühlte Emma sich erheblich besser. Schon komisch, überlegte sie, was eine warme Mahlzeit so alles bewirkte. Aber nicht nur das; abgesehen von der schmackhaften regionalen Küche, die es dort gab, hatten sie und Gracie jetzt ein Dach über dem Kopf. Ruby’s war Pension und Café, mit großen, geräumigen Zimmern im Obergeschoss. Emma hatte eins mit Blick über den Platz gemietet.

Ruby, die Pensionswirtin, vermietete jeweils für mindestens eine Woche – gegen Vorkasse, aber das war Emma nur recht. Sie hatte das ständige Herumziehen und das Leben aus dem Koffer nämlich restlos satt. Und freute sich auf den kleinen Luxus, endlich einmal ihre Sachen auspacken und für ein paar Tage irgendwo ausspannen zu können. Früher oder später hätte sie sich ohnehin eine feste Bleibe suchen müssen. Ganz zu schweigen davon, dass in dem Pensionspreis Frühstück und Abendessen inbegriffen waren, was Emma entschieden günstiger kam als die Übernachtungen in den Motels, selbst wenn diese Sonderkonditionen anboten. Warum sollte sie also nicht gleich hier zuschlagen? Sie hielt ihre Entscheidung für goldrichtig.

Fünf Minuten später war sie jedoch nicht mehr ganz so überzeugt.

***

Sandy, Sachbearbeiterin bei der Polizei, steckte den Kopf in das Büro des Sheriffs. »Elvis, ich glaube, Sie schauen besser mal bei Bill’s Garage vorbei«, meinte sie. »Irgendeine Touristin mit einer uralten Karre probt da den Mordsaufstand und zieht haufenweise Inselbewohner an.«

Inbrünstig fluchend lief Elvis zur Tür. Dieser verdammte Halsabschneider; er hatte Bill schon häufiger verwarnt, weil er die Leute mit getürkten Rechnungen übers Ohr haute.

Sandy hatte nicht übertrieben; vor der Reparaturwerkstatt hatte sich bereits eine kleine Menschentraube versammelt. Die meisten Leute traten wortlos beiseite, als Elvis auftauchte. Nur sein Freund Sam begrüßte ihn grinsend. »Eigentlich schade, dass du dazwischengehen musst, Donnelly«, frotzelte er. »Die Frau ist echt spitze. Könnte glatt Honorar verlangen für ihre Darbietung.«

Nach einem Blick auf den Wagen schluckte Elvis trocken. Grundgütiger, Sandy, dachte er bei sich, das nennst du eine uralte Karre? Der Wagen war ein Klassiker, ein Chevy, Baujahr 1957 und in tadellosem Zustand. Wer einen solchen Oldtimer fuhr, hatte bestimmt auch die Kohle für die zwangsläufig anfallenden Reparaturen. Am liebsten hätte er die Sache auf sich beruhen lassen und Bill keinen Ärger gemacht … aber dann sah er die Frau. Und das war ein verdammt überzeugendes Argument.

Sein erster Eindruck war der einer großen Blondine mit einer Stimme wie warmer Honig und einer Figur, die in null Komma nichts ein mittleres Verkehrschaos auslösen könnte. Bei näherem Hinsehen gewahrte er, dass ihre Haare nicht wirklich blond waren. Vielmehr dunkelblond mit aufgehellten Strähnchen – na, und? Elvis’ breite Schultern zuckten verräterisch, so als hätte er sich mühsam das Lachen verkneifen müssen. Jedenfalls machte sie ihm nicht den Eindruck einer dämlichen Blondine …

Aber die Figur riss einen wahrhaftig von den Socken. Sie trug eine enge Levis und hatte ein kleines Mädchen auf der Hüfte sitzen. Und er war bestimmt nicht der einzige Mann in der Werkstatt, der den Blick von der schmutzigen, kleinen Hand, die das T-Shirt dieser Beauty in Brusthöhe umklammerte, nicht losreißen konnte. »Eine kleine Spinne«, gluckste das Kind, während sich die winzigen Finger in die üppige Fülle gruben. »Klettert übern Ast.«

Heiliges Kanonenrohr.

»… Sie … Sie mieser, hinterhältiger Betrüger«, erregte sich die Frau gerade, worauf er sich schleunigst wieder auf die Sachlage konzentrierte. Und obschon sie Bill in Grund und Boden redete, rief ihre warme, temperamentvolle Stimme in Elvis Bilder wach an heiße, magnolienduftende Südstaatennächte. »Wo haben Sie eigentlich Ihre Mechanikerprüfung gemacht, Cher? Vermutlich im Lotto gewonnen, was?«

»Das geht Sie Schlampe gar nichts an«, konterte Bill wenig charmant. Zwischen Elvis’ Brauen bildete sich eine steile Falte, die nichts Gutes bedeutete.

Er trat einen Schritt vor. »Was ist denn hier los, Leute?«

Emmas Kopf wirbelte herum. Sie starrte den Beamten sekundenlang entgeistert an. Im Türrahmen und umlagert von einer sensationshungrigen Meute stand ungelogen Mr. Universum. Der Typ war mindestens einsfünfundneunzig groß und brachte locker zwei Zentner auf die Waage – in Form von durchtrainierten Muskeln, wohlgemerkt, adrett verpackt in khakifarbiger Uniform. Sie fixierte ihn jedoch nicht nur wegen seiner imposanten Statur. Sondern auch wegen der knallharten Miene, die er aufgesetzt hatte. Und nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sein linker Arm statt in einer Hand in einer Prothese mündete. Seine linke Gesichtshälfte wurde von einer hässlichen, zwei Zentimeter breiten Narbe entstellt, die sich zickzackförmig über die Wange bis zum Rand seiner vollen Unterlippe zog.

Gracie schmiegte sich unversehens an sie. Bettete den Kopf auf ihre Brust und schob den Daumen in den Mund. Emma spähte an sich hinunter und gewahrte, wie ihre Tochter fasziniert den finster dreinblickenden Fremden anstarrte, riesige braune Augen klebten an der ungesund geröteten Narbe. »Aua«, flüsterte sie Daumen lutschend. Emma riss sich aus ihren Gedanken, lächelte matt und drückte Gracie einen Kuss auf die weichen Locken.

»Ich sag Ihnen, was hier los ist«, gab sie selbstbewusst zurück. Sie durchquerte die Werkstatt und baute sich vor dem Hünen auf. Bog den Kopf leicht zurück, so dass sie ihm frontal in die umwerfend blauen Augen schauen konnte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass mit den Zündkerzen was nicht in Ordnung war«, hob sie an. »Ich kam her, damit das kontrolliert wird. Und was behauptet dieser Idiot?« – Sie deutete mit einer ausladenden Geste auf Bill Gertz. – »Ich hätte ’nen Kolbenfresser! Einen Kolbenfresser! Zeigen kann der Komiker mir allerdings nicht, welcher Zylinder den Geist aufgegeben hat. Aber ich soll mir wegen so was ja auch nicht mein hübsches Köpfchen zerbrechen!« Letzteres spuckte sie förmlich aus. »Natürlich nicht. Ist ja auch sonnenklar. Immerhin reden wir ja nur von ein paar hundert Dollar Unterschied auf der verfluchten Rechnung.«

»Woher kennen Sie sich mit Autos so gut aus, Miss?«, erkundigte sich Elvis interessiert. Bill hatte sich bei der Dame ganz eindeutig verschätzt. Die wusste genau, wovon sie redete.

Sie hielt seinem Blick stand. »Von meinem Bruder, Cher. Big Eddy Robescheaux hatte den schärfsten Laden in ganz New Orleans, vermutlich von ganz Louisiana. Er und ich – na ja, wir haben irgendwelche Karren umfrisiert und verhökert. Ich bin in dem Laden groß geworden. Und den Jungs ein bisschen zur Hand gegangen.«

»Solche Geschäfte sind illegal, Miss Robescheaux.«

»Sands«, korrigierte sie ihn. »Robescheaux war mein Mädchenname.«

Elvis räusperte sich betreten. Was war auf einmal mit ihm los? War er etwa eifersüchtig? Er gab sich mental einen Ruck. Ganz logisch, dass ein hässlicher Vogel wie er bei einer solchen Superbraut keine Chance hatte.

»Ich weiß, dass so was illegal ist, Cher«, fuhr sie leise fort. In ihre Augen trat ein melancholischer Glanz. »Big Eddy wurde eingelocht, und er starb im Gefängnis, kurz vor seiner Freilassung.« Sie nagte an ihrer vollen Unterlippe, zog sie unbewusst in den Mund. Eddys Festnahme und sein Tod waren exakt in die Zeit gefallen, als sie sich mit Grant Woodard eingelassen hatte … aber das war eine andere Geschichte, die sie diesem Sheriff nicht auf die Nase binden musste.

»Tut mir aufrichtig leid, Mrs. Sands.«

»Oh, nennen Sie mich ruhig Emma, Cher. Und Sie sind …?«

»Sheriff Donnelly.«

»He, seid ihr zwei noch ganz bei Trost?«, mischte sich Bill ärgerlich ein. »Machen wir hier einen auf Verbrüderung oder was? Lass dich doch von ihren hübschen Titten nicht einlullen, Elvis.«

»Elvis?«, erkundigte sich Emma perplex. Gracie gähnte mit dem Daumen im Mund und begann erneut, mit ihrer freien Hand über die Brüste ihrer Mutter zu krabbeln. »Eine kleine Spinne klettert …«

Unangenehm ertappt, hob Elvis die breiten Schultern. »Meine Mutter ist halt ein großer Fan von Elvis Presley«, erklärte er und wandte sich Bill zu. Seine Miene duldete keinen Widerspruch. »Ich sag dir eins, Bill, lass die Anatomie der Dame aus dem Spiel und dreh ihr neue Kerzen rein, aber dalli.«

»Verdammt noch mal! Sie hat einen Kolbenfresser, wenn ich’s doch sage!«

»Das kann dir doch egal sein, oder? Wenn sie Recht hat mit ihren Zündkerzen, kann sie dich anzeigen wegen Betrugs. Sollte deine Diagnose aber stimmen, wird sie sich sicher in aller Form bei dir entschuldigen.«

»O ja, auf Knien, Cher«, versicherte Emma dem wütenden Mechaniker.

»Echt? Also, wenn Sie erst mal da unten hocken, können Sie mir auch gleich meinen kleinen Freund lut…«

Emma hatte noch niemanden erlebt, der sich mit einer solch blitzartigen Geschmeidigkeit bewegte. Bevor der Mechaniker seinen schlüpfrigen Vorschlag herausposaunt hatte, war Elvis Donnelly bei ihm und packte Bills schmutzigen Overallkragen mit seiner Prothese. Hob ihn mühelos einige Zentimeter vom Boden hoch.

»Es ist nicht das erste Mal, dass ich von deinen abseitigen Geschäftspraktiken höre«, sagte Donnelly gefährlich leise. Er brachte sein Gesicht dicht über das des Automechanikers. »Und wenn du nicht schleunigst aufhörst, Gertz, die Leute für dumm zu verkaufen, dann schließe ich deinen Laden schneller, als du gucken kannst. Also halt den Mund und mach deine Arbeit. Los, setz deinen faulen Arsch in Bewegung und streng deine grauen Zellen an.« Elvis richtete sich auf, öffnete den Prothesenmechanismus und ließ den Overall los. Worauf Bill unsanft auf den Füßen landete.

Gertz straffte sich, rieb sich den schmerzenden Nacken. »Sieh mal einer an, unser Sheriff macht sich für irgendwelche Flittchen stark«, knirschte er und wich automatisch einen Schritt zurück, da er Elvis’ wutblitzende blaue Augen bemerkte.

»Wie bitte?« Schwer entrüstet trat Emma zwischen den breitschultrigen Hüter des Gesetzes und den Mechaniker. Diesen persönlichen Affront ließ sie nicht auf sich sitzen, Sheriff hin oder her. Außerdem war sie es gewohnt, ihr Leben selbst zu regeln. Mit ihren knapp ein Meter achtzig baute sie sich vor Bill Gertz auf.

»Was halten Sie eigentlich davon, wenn ich Sie miese, kleine Ratte wegen Beleidigung vor Gericht zerre?«, meinte sie leise provozierend. Ihre wutglitzernden, braunen Augen bohrten sich in seine. »Ich bin keine zwei Stunden hier in der Stadt, und wir sind uns nie vorher begegnet! Woher nehmen Sie sich das Recht, so über mich zu reden?« Emma tat einen tiefen Atemzug, spürte, wie ihre Schultern die Brust des Sheriffs streiften, und war für Sekundenbruchteile versucht, sich Halt suchend an ihn zu lehnen.

Das hätte ihr gerade noch gefehlt! Sie drückte das Rückgrat durch und atmete hektisch aus. »Juristisch gesehen bewegen Sie sich sowieso schon auf verdammt dünnem Eis. Da brauche ich nur die Sache mit meinemWagen zu erwähnen«, informierte sie Gertz kühl und schickte noch eine Warnung hinterher. »Wenn ich Sie wäre, Mistah Bill oder wie zum Henker Sie auch heißen mögen, würde ich ganz kleine Brötchen backen. Wenn Sie sich in Gegenwart meiner kleinen Tochter noch die kleinste Unverschämtheit herausnehmen, dann können Sie einpacken. Ich werde mir den besten Anwalt diesseits des Mississippi nehmen und so lange prozessieren, bis diese abgewrackte, kleine Werkstatt mir gehört!« Nach einem verächtlichen Blick auf das schäbige Interieur bohrten sich ihre Augen wieder in die des Mechanikers. »Zweifellos muss hier mal jemand ganz andere Saiten aufziehen.«

Jetzt hatte sie tüchtig Dampf abgelassen. Ja, gut so, gibs ihm, Em, dachte sie gefrustet. Große Töne und alles heiße Luft. Freilich durfte sie nichts riskieren, was die Aufmerksamkeit auf sie und Gracie lenkte! Trotzdem fixierte sie Bill Gertz, ohne mit der Wimper zu zucken. Zu bluffen hatte sie immerhin schon im zarten Kindesalter gelernt, und dieser dämliche Schmalspurmechaniker war so ungefähr der Letzte, der Emma Robescheaux-Sands beeindrucken konnte. Oder im Beisein ihres Kindes beleidigte.

»Maman?« Um auf sich aufmerksam zu machen, zog Gracie sie an den Haaren. Als Emma zu ihr blickte, meinte die Kleine zaghaft: »Gehen wir jetzt?«

»Gleich, Herzchen.« Emma senkte den Kopf und küsste das Kind auf die rosige Wange. Fuhr mit der Hand zärtlich durch Gracies Locken, bevor sie den Mechaniker abermals vernichtend musterte. »Also, was ist Ihnen lieber, Mistah Gertz?«

Der Mechaniker nahm jedes Wort für bare Münze. Erblickte sich betroffen um und wünschte, er hätte diesen Blödsinn nie angefangen. Aber verdammt und zugenäht, wer konnte denn wissen, dass eine Frau – vor allem ein Rasseweib wie die da – Ahnung von Autos hatte? Früher waren seine kleinen Schwindeleien noch nie aufgeflogen.

Nach der aufgeheizten Stimmung unter den Umstehenden zu urteilen, kam von der Seite bestimmt keine Unterstützung. Elvis Donnelly war den meisten Bewohnern zwar unsympathisch, trotzdem respektierte man ihn als Sheriff. Bill war klar, dass er einen Riesenbock geschossen hatte. Ein taktischer Fehler, die junge Frau dumm anzumachen – und das im Beisein ihrer süßen, kleinen Tochter. Daran gab es nichts zu rütteln.

»Okay, okay, ich dreh Ihnen neue Kerzen rein«, murrte er ungnädig. Teufel noch, er musste sich irgendwie aus dieser Mordsblamage herauslavieren. Dann fuhr die scharfe Braut wenigstens wieder ab und er sah sie nie wieder. In einer Woche krähte vermutlich kein Hahn mehr danach, dass er mit linken Tricks arbeitete. Außer vielleicht Elvis Donnelly.

Und mit dem wurde er doch locker fertig, oder?

***

Emma war heilfroh, als sie sich wieder hinters Steuer setzen und den Wagen auf den kleinen Parkplatz hinter Rubys Pension fahren konnte. Nach einem letzten mordlustigen Blick auf den Mechaniker und einem knappen Nicken von diesem verkniffenen Sheriff, als sie sich für seine Hilfe bedankt hatte, hätte sie am liebsten aufs Gas gedrückt und diesen dämlichen Ort verlassen. Aber das war leider nicht möglich.

Vor ihrer überstürzten Abreise aus St. Louis hatte sie ihr Sparbuch geplündert – stolze Ausbeute: eintausendvierhundertsechsunddreißig Dollar und siebzehn Cents. Und die Visa- und Mastercard, die Grant ihr spendiert hatte, mit je viertausend Dollar Cash belastet. Das machte zusammen neuntausendvierhundertsechsunddreißig Dollar und siebzehn Cents. Ein Haufen Geld für jemanden, der seine Rechnungen seit Jahren nicht mehr selbst bezahlt hatte. Aber wenn man überlegte, dass das alles war, was sie und Gracie noch von der Gosse trennte, und dass es, als Jahreseinkommen betrachtet, knapp über der Armutsgrenze lag, dann sah ihre finanzielle Situation alles andere als rosig aus. Sie hatte bereits fünfhundertsiebenundneunzig Dollar ausgegeben und konnte es sich wirklich nicht leisten, eine Woche Kost und Logis mal eben locker in den Wind zu schreiben.

Ob sie wollte oder nicht, sie saß die nächsten sieben Tage in diesem unsäglichen Port Flannery fest.

2

Vielleicht war es aber auch gar nicht so schlimm, wie sie zunächst angenommen hatte. Am Abend kam Ruby persönlich an ihren Tisch und brachte Emma und Gracie das Essen. Sie schob der Kleinen einen hübsch mit Früchten garnierten Teller Makkaroni mit Käse hin und blickte über den Tisch zu Emma. »Ich hab von Ihrem Zusammenstoß mit Bill gehört«, begann sie. Emma musterte sie unschlüssig. Miene und Tonfall der Frau sagten nichts über ihre Meinung darüber aus.

»So was spricht sich vermutlich rum«, erwiderte sie unverbindlich.

»Das können Sie laut sagen. Jedenfalls hier in dem kleinen Hafenstädtchen, wo ohnehin nicht viel passiert.« Ruby stellte eine Terrine Eintopf und eine Schüssel Salat vor Emma auf den Tisch. Dann trat sie zurück und beobachtete ihren Gast. »Ich hab selbst schon häufiger vermutet, dass er mich übers Ohr haut. Da ich aber nichts von Autos verstehe, hatte ich nie den Nerv, ihn darauf festzunageln.« Sie strich das rosafarbene Jäckchen ihrer Uniform glatt und lächelte Emma aufmunternd zu. »Schätzchen, das ging mir echt runter wie Öl, wie Sie es dem gegeben haben.« Sie schob sich mit dem Bleistiftende eine vorwitzige, hennagetönte Haarsträhne hinters Ohr und überlegte. »Verstehen Sie wirklich so viel von Autos, wie die Leute hier munkeln?«, wollte sie schließlich wissen.

»Ein bisschen was, ja«, räumte Emma achselzuckend ein. »Vermutlich, weil ich als Kind der wildeste Feger in ganz New Orleans war. Ich sagte mir immer: Was ein Junge kann, kann ich besser.« Sie bedachte Ruby mit einem entschuldigenden Lächeln und hob wegwerfend die Schultern. »Ich hab jahrelang mit meinem großen Bruder zusammengelebt, und, Cher, bis ich fünfzehn wurde, war ich jede freie Stunde in seinem Laden. Er frisierte nämlich irgendwelche heißen Karren.«

»Hätten Sie nicht vielleicht Lust, sich mein Auto mal anzusehen?«

Emma öffnete den Mund und schloss ihn hastig wieder. »Bitte«, murmelte sie und deutete auf den freien Stuhl an ihrem Tisch, »wollen Sie sich nicht kurz zu uns setzen? Ich bekomm sonst Genickstarre, weil ich pausenlos zu Ihnen hochstarren muss.«

Grinsend rückte Ruby sich den Stuhl zurecht. Sie setzte sich und sagte mit Nachdruck: »Essen Sie Ihre Suppe, bevor sie kalt wird.« Als Emma brav loslöffelte, lehnte die Wirtin sich entspannt zurück. »Bonnie!«, rief sie in Richtung Tresen. »Bring mir doch mal ’ne Tasse Kaffee rüber, ja, Schätzchen?«

»Na klar, Ruby«, rief die Kellnerin zurück. Ruby setzte sich auf und widmete ihre Aufmerksamkeit dem kleinen Mädchen, damit ihre Mutter in Ruhe essen konnte. »Und du bist die kleine Gracie, richtig?«

Gracie sah auf. Ihr Mund käseverschmiert, schenkte sie der rothaarigen Frau ein strahlendes Lächeln. »Richtig! Ich bin schon drei.« Sie ließ die Gabel auf den Teller fallen und hielt der Frau drei Finger vor die Nase.

»Drei Jahre.« Ruby nickte. »Was für ein großes Mädchen.«

»Gwacie großes Mädchen«, bekräftigte die Kleine. Für Unsinn immer zu haben und begeistert über die Zuwendung der Fremden, nutzte sie die Gunst des Augenblicks für eine kleine Darbietung. Sie patschte mit den Fingern auf ihrem Teller herum, grinste ihre neue Freundin dabei schelmisch an und trällerte fröhlich: »Backe, backe Kuchen!«

»Grace Mehna!« Der Löffel knallte auf den Tellerrand, und schon packte Emma über den Tisch hinweg nach Gracies Handgelenken. Zog sie vom Teller weg und ermahnte die Kleine streng: »Große Mädchen matschen nicht in ihrem Essen herum, Chéri. Wie oft muss ich das noch sagen?« Kurz entschlossen tauchte sie die Serviette in ihr gefülltes Wasserglas und wischte ihrer Tochter die fettigen Finger ab. »Du isst mit der Gabel, verstanden? Sonst gibt es kein Dessert.« Emma blickte zu Ruby und zog eine bedauernde Grimasse. »Bitte entschuldigen Sie.

Manchmal lassen ihre Manieren ein bisschen zu wünschen übrig.«

»Das macht doch nichts. Ich habe selbst zwei Kinder. Beide inzwischen im Teeniealter, aber Kinder sind Kinder. Ich spreche aus Erfahrung.« Lächelnd nahm Ruby der Kellnerin den dampfend heißen Kaffee ab und lehnte sich zurück. Nachdem sie daran genippt hatte, stellte sie die Tasse ab und meinte mit einem Kopfnicken zu Grace: »Ein aufgeschlossenes, kleines Mädchen, nicht?«

»Leider gelegentlich zu aufgeschlossen«, räumte Emma seufzend ein. »Gracie mag einfach jeden. Und ich habe eine Heidenangst, dass sie irgendwann mit jemandem mitgehen könnte. Ich trichtere ihr zwar andauernd ein, sie soll nicht mit Fremden reden, trotzdem bin ich mir keineswegs sicher, dass sie nicht mit dem Erstbesten loszieht, wenn der ihr eine halbwegs überzeugende Geschichte auftischt.«

»Gwacie sagt nein«, beteuerte das Kind und spielte lustlos mit der Gabel in ihren Nudeln herum.

»Das weiß ich, Herzchen«, erwiderte Emma. Gleichwohl runzelte sie skeptisch die Brauen und wechselte das Thema. »Noch mal zu Ihrem Wagen«, meinte sie an Ruby gewandt.

»Es ist bestimmt nichts Weltbewegendes«, hob Ruby an. »Er braucht einen Ölwechsel und – na ja, Sie wissen schon – das ganze Drumherum, das bei einer Inspektion fällig wird.« Sie fuchtelte vage mit den Händen in der Luft herum, worauf Emma sie schief angrinste.

»Also Ölwechsel, Filterwechsel, Batterie- und Kühlwasserkontrolle, Bremsencheck?« Emma hatte nicht den Eindruck, dass Ruby eines dieser neuen Modelle mit elektronischer Anzeige fuhr. »Ja, genau.« Ruby strahlte. »Der ganze Kram. Wie viel würden Sie mir dafür abknöpfen?«

»Kann ich so nicht sagen. Gibt es hier irgendwo einen Laden für Autoteile und -zubehör?«

»Mackey’s, das große Geschäft unten am Hafen, führt Ersatzteile.«

»Dann macht es« – Emma nannte eine Summe – »plus Material. Allerdings sind die Preise auf Inseln wie dieser oft doppelt so hoch wie auf dem Festland«, schränkte sie warnend ein. »Besser, ich schau mir den Laden morgen früh noch kurz an. Dann kann ich Ihnen Genaueres sagen und Sie wissen, worauf Sie sich einlassen.«

»Wenn Sie meinen«, antwortete Ruby achselzuckend. »Aber die Sache geht hundertprozentig klar. Bill würde mir nämlich dreimal so viel abknöpfen wie Sie.«

Ihr Ton süß wie Zuckerrohr und sanft wie eine Südstaatenbrise, gab Emma ihre Meinung über Bill und seine Geschäftspraktiken preis, worauf Ruby in schallendes Gelächter ausbrach. Emma ließ sich noch alle notwendigen Details wie Wagentyp, Baujahr und Modell geben, bevor ihre Pensionswirtin sich entschuldigte und wieder in Richtung Küche verschwand. Während Gracie ihr Dessert verputzte, klopfte ihre Mutter sich mental auf die Schulter, dass sie kurz davorstand, ihre Reisekasse aufzubessern. Wie auf Wolken schwebte sie mit Gracie in ihre gemietete Unterkunft.

Einem geregelten Job nachzugehen hätte sie sich freilich nie getraut. Zumal sie mit ziemlicher Sicherheit einen von Grants Spitzeln oder irgendeinen Privatdetektiv an den Hacken hätte, sobald ihre Sozialversicherungsnummer auf einem Gehaltscheck auftauchte. Daran zweifelte sie nicht eine Sekunde lang. Grundgütiger, das galt es mit allen Mitteln zu verhindern.

Aber eine Inspektion von Rubys Wagen … das war fast so etwas wie ein Lottogewinn. Keine Sozialversicherungsnummer, die Grant zu ihr führte, stattdessen eine kleine, dringend benötigte Finanzspritze. Emma hob Gracie hoch und wirbelte sie lachend im Kreis.

Prompt war das Kind nicht mehr zu bändigen. Nachdem ihre Mutter sie abgesetzt hatte, tanzte sie weiter, drehte sich ausgelassen giggelnd im Kreis. Ärgerlich über ihren taktischen Fehler, holte Emma den Kinderschlafanzug und bekam zunächst gar nicht mit, dass ihre Tochter heimlich die Zimmertür geöffnet hatte.

Grace hopste durch den Flur und wirbelte wieder in das Pensionszimmer, stampfte energisch über den Parkettboden und betrachtete dabei andächtig ihre winzigen Turnschuhe mit den handgemalten bunten Fischen. Die Tür blieb einen Spalt offen stehen.

Elvis, der die Stufen hochkam, sah, wie das kleine Mädchen rotwangig und mit wippenden, blonden Locken durch den Korridor wirbelte und dann wie eine winzige Charlie-Chaplin-Kopie in den Raum zurückstapfte. Er verharrte unschlüssig auf dem Treppenabsatz, bevor er geräuschlos durch den Gang glitt.

Eigenartig, dass die beiden noch in der Stadt waren. Nachdem Emma Sands und ihr süßer Fratz in den Riesenschlitten gestiegen waren, hätte er nach dem Mordstheater bei Bill nicht erwartet, sie jemals wiederzusehen. Und erst recht nicht, dass der kleine Wirbelwind nur drei Türen von seinem Zimmer entfernt herumhopste.

Er blieb stehen und spähte verstohlen durch den Türspalt ihres Zimmers. Emma Sands richtete sich gerade vor der Kommode auf. Sie presste sich eine feingliedrige Hand ins Kreuz und dehnte die Wirbelsäule. »Gracie, es reicht jetzt«, schalt sie in dem samtigen Singsang, der ihm schon am Nachmittag aufgefallen war. »Du bist doch kein Äffchen!«

Elvis betrachtete ihre schlanke Silhouette, lauschte dem weich-gedehnten Südstaatenakzent, und fragte sich insgeheim, wo zum Teufel sie ihren Ehemann gelassen hatte. Es verblüffte ihn, dass er sich dafür interessierte, denn normalerweise ließ ihn dergleichen absolut kalt.

Der Stumpf der Hand, die er bei der Explosion einer Autobombe verloren hatte, kribbelte auf einmal wie verrückt, und er rieb den Arm mit der Prothese behutsam an seiner Levi’s. Ein unbewusster Reflex, um den Phantomschmerz zu lindern. Automatisch glitt sein Blick durch den Raum, nahm sein geschultes Auge jedes Detail wahr.

Sein erster Eindruck war, dass sie keine Urlaubsreisende war. Immerhin hatte sie einen mitgebrachten kleinen Fernseher und einen Videorekorder auf die Kommode gestellt. Solch einen Schrott packte man doch nicht ein, wenn man für eine Woche in Urlaub fuhr. Na, wenn schon. Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht trug sie sich ja mit Umzugsplänen.

Sein Instinkt als Cop signalisierte ihm jedoch, dass er da falsch lag.

Gracie sprang im Zimmer umher, kratzte sich und kreischte wie ein Affe, und das zunehmend lauter. Schließlich warf Emma den Schlafanzug aufs Bett und schnappte sich ihre Tochter. Sie schlang die Arme um das zappelnde Kind und hielt sie fest.

»Genug jetzt, silvousplait«, schimpfte sie augenzwinkernd. Dann hauchte sie ihrer Tochter einen Kuss auf dierosige Wange und ließ sich mit ihr gemeinsam auf das Bett fallen. Worauf Gracie sich an ihre Mutter kuschelte, das Gesicht an ihre vollen Brüste schmiegte und zufrieden den Daumen in den Mund schob.

»Hier oben wohnen noch andere Leute«, fuhr Emma leise ermahnend fort. Sie strich ihrer Tochter die zerzausten Locken aus dem erhitzten Gesicht. »Engelchen, die wollen bestimmt fernsehen oder ein Buch lesen und fühlen sich durch deinen Lärm gestört.«

»Gwacie Affenmädchen.«

»Oui, ich weiß. Und kleine Affenmädchen sind jetzt müde und müssen schlafen. Also, keinen Ton mehr, sonst wird Maman böse. Und das möchtest du doch sicher nicht, oder, Schätzchen?«

Gracie gähnte. »Gwacie schlafen«, murmelte sie daumenlutschend.

»Oder möchtest du vorher noch baden, Herzchen? Im Flur ist ein schönes, großes Badezimmer. Und ich hab das Schaumbad mitgebracht, das du so gern magst.«

»Gwacie Opa anrufen.«

Emma zuckte unwillkürlich zusammen, fasste sich aber rasch wieder. »Ahm, Opa ist weggefahren«, sagte sie betont beiläufig. »Da müssen wir warten, bis er wieder zu Hause ist. Sollen wir beide uns noch ein Bilderbuch anschauen?«

Elvis merkte spontan auf. Er hatte fasziniert verfolgt, wie rührend Emma sich um ihre Tochter kümmerte. Trotzdem suggerierte ihm langjährige Berufserfahrung, dass sie nicht ganz aufrichtig mit dem Kind war. Was verschleierte sie vor ihrer Tochter? Ungehalten schüttelte er den Kopf. Verflucht, sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen in seiner Stadt. Und alles andere ging ihn nichts an. War ja mal was ganz Neues, wie er sich plötzlich für diese Fremde interessierte. Seine Mundwinkel verzogen sich sarkastisch. Er war sich nämlich keineswegs sicher, ob ihm das behagte.

Trotzdem war er neugierig.

Dummerweise machte ihn die Neugier unvorsichtig. Er bewegte sich zu abrupt, woraufhin sie auf ihn aufmerksam wurde.

Emma, die aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, drehte den Kopf spontan in Richtung Eingang. Ihre Tür war nur angelehnt und ein riesiger Schatten blendete den Streifen Licht im Flur aus. Ihr Herz klopfte wie rasend, als sie die Arme schützend um ihr Kind legte und benommen zum Bett zurück stolperte.

Elvis bemerkte die Panik in ihren Zügen. Er schob eine Hand zwischen die Tür, drückte sie ein bisschen weiter auf und trat ins Licht. »Guten Abend, Mrs. Sands«, begrüßte er sie höflich.

»Sheriff Donnelly«, gab sie steif zurück. Zögernd setzte sie hinzu: »Haben Sie die Tür aufgemacht?«

»Nein, Ma’am. Sie war offen, als ich durch den Gang kam.«

Dass ihre Tochter die Tür geöffnet hatte, behielt er geflissentlich für sich. Sonst hätte Emma automatisch geschlossen, dass er sie schon eine ganze Weile wie ein mieser, kleiner Spanner beobachtet hatte. Seine Augen glitten unwillkürlich zu dem Kind.

Den Kopf an die Brust der Mutter gekuschelt, erwiderte das kleine Mädchen sekundenlang verschwörerisch seinen Blick. Dann öffnete sie die Lippen, lutschte heftig an ihrem Daumen. Umklammerte mit dem Zeigefinger ihre Nase. Emma senkte den Kopf und fixierte ihre Tochter. »Gracie?«, bohrte sie.

Schuldbewusst hob Gracie die Lider.

»Hast du die Tür aufgemacht?«

Gracie nuckelte mehrmals kräftig an ihrem Daumen und nuschelte dann: »Oh … mmmh.«

»Bist du im Flur gewesen?«

Grace öffnete den Mund, um alles abzustreiten – immerhin hatten sie heute schon genug Arger gehabt. Aber der Riese mit dem Aua im Gesicht ließ sie nicht aus den Augen, und der wusste bestimmt alles, genau wie der Weihnachtsmann. »Öh … mmmh.«

»Grace Mehna Sands«, entrüstete sich Emma, »was hab ich dir gesagt? Darfst du einfach Hotelzimmertüren öffnen und ohne mich hinauslaufen?«

»Waren aber keine Autos oder Laster draußen, Mommy.« Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen, ihre leicht vorgeschobene Unterlippe bebte unkontrolliert. Sie schmiegte sich fester an ihre Mutter.

Elvis wurde plötzlich ganz anders. Herrje. Jetzt bekam die Kleine wegen ihm noch Ärger! »Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, Mrs. Sands«, versicherte er ihr hastig. Sein Blick glitt von dem schluchzenden Kind zu Emmas Gesicht. Mann, das war ja nicht auszuhalten. »Hier in der Pension kann sie nach Herzenslust herumstrolchen – da passiert nichts.«

Gracie blinzelte ihn verwundert an und hörte schlagartig auf zu weinen. Sie begriff, dass er für sie Partei ergriff, wenngleich sie seine Argumentation auch nicht verstand. Emma musterte ihn von oben bis unten. Heimlich amüsiert über die Panik, die das weinende, kleine Mädchen in dem bärbeißigen, überkorrekten Typen auslöste. Sheriff Elvis Donnelly hatte bestimmt keine Kinder. »Wohnen Sie auch hier, Sheriff?«

»Ja, Ma’am. Am Ende des Ganges, Zimmer G.« Eine ungeheuer praktische Lösung, wie er fand. So war es nur ein Steinwurf bis zu seiner Dienststelle, und er brauchte weder zu kochen noch zu putzen.

Emma beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Na ja, schätze, hier ist es wirklich ein bisschen anders als in einigen Motels, wo wir übernachtet haben«, räumte sie ein. »Und da wir mindestens eine Woche bleiben werden …« Erneut senkte sie den Blick auf Gracie. »Wir reden morgen früh noch einmal darüber, Miss Sands.«

Sie richtete sich auf, nahm ihre Tochter vom Schoß und setzte sie neben sich auf das Bett. »Das mit dem Baden verschieben wir erst mal. Es war ein langer Tag heute. Möchtest du noch eine Gutenachtgeschichte hören? Wird höchste Zeit, dass du deinen Schlafanzug anziehst.«

Gracie krabbelte vom Bett und lief zu dem Bücherstapel auf dem Fensterbrett. Emma hatte ein Zimmer mit Blick auf den parkähnlichen Platz genommen. Draußen im Gang trat Elvis nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ahm … tja, ich bin dann weg«, rief er. Er wandte sich zum Gehen, zögerte noch kurz und bedachte Emma mit nachdenklich-ernstem Blick. »Gute Nacht, Mrs. Sands.«

»Gute Nacht, Sheriff.«

Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss.

Inzwischen hatte Gracie sämtliche Bücher im Raum verteilt. Hoffnungsvoll blickte sie zum Eingang und dann enttäuscht zu ihrer Mutter. »Wo ist denn dieser Mann, Maman?«

»Sheriff Donnelly ist in sein eigenes Zimmer gegangen, Herzchen. Komm, zieh den Schlafanzug an.«

Gracie kletterte brav aufs Bett, und Emma begann, ihr die Sachen auszuziehen. »Will er denn nicht Cinderella hören?«

»Ich glaube nicht, dass er eine Gutenachtgeschichte für kleine Mädchen hören möchte«, antwortete Emma. Sie stellte Gracies Schuhe beiseite, öffnete die Schnallen von ihrem OshKosh-Overall und streifte ihn herunter. Zog ihr das winzige, am Hals gerüschte T-Shirt über den Kopf. »Und, musst du noch mal, Süße?«

»Oh … mmmh.«

Emma musste sich bremsen, um der Kleinen nicht zu helfen, die sich umständlich den Schlafanzug anzog. Eigentlich ging ihr das viel zu langsam. »Weißt du was«, sie schlug sich auf die jeansbedeckten Schenkel, »wir nehmen deine Zahnbürste und Zahnpasta mit und erledigen alles in einem Aufwasch.«

***

Seit sie sich vor knapp zwei Wochen ihre Tochter geschnappt hatte und mit ihr geflohen war, hatte Emma sich für gewöhnlich so lange unter Kontrolle, wie Gracie sie brauchte. Sobald das Kind jedoch schlief, kochte alles wieder hoch.

Die Arme vor der Brust verschränkt, stand Emma in der ersten Etage am Fenster und spähte auf den schwach erleuchteten Platz. Wie in den meisten Kleinstädten wurden in Port Flannery nach Einbruch der Dunkelheit wohl die Bürgersteige hochgeklappt. Schon möglich, dass in der Taverne am Hafen mehr los war, aber hier oben war alles ruhig und still. Soweit sie erkennen konnte, strolchte lediglich irgendeine hässliche Promenadenmischung über den Rasen, schnupperte an den Blumen und hob das Bein. Wie deprimierend! Emma zog kurzerhand die Vorhänge zu und wandte sich vom Fenster ab.

Sie versuchte krampfhaft, den Stapel Videos auszublenden, der in einer Tasche auf dem Regal lag. Die Filme zogen sie magisch an, genau wie an dem Tag, als sie in seiner Bibliothek auf Grants Rückkehr gewartet hatte. Der Tag, der ihr gesamtes bisheriges Leben umgekrempelt hatte.

Es war beileibe nicht ihre Absicht gewesen, in seine Privatsphäre vorzudringen. Mon Dieu, erregte sich Emma noch im Nachhinein und musste eine leichte Anwandlung von Hysterie unterdrücken, seine Privatsphäre. Das war die Ironie schlechthin! Ihr entwich ein leises, erbittertes Lachen, fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Körper.

Um eins klarzustellen: Sie hatte an dem fraglichen Nachmittag in Grants Bibliothek nicht herumspionieren wollen, sondern sich aus purer Langeweile ein wenig umgesehen. Zudem hatte sie schon zigmal beobachtet, wie Grant den Schlüssel vom Schrank genommen und wieder weggelegt hatte, und immer angenommen, dass es sich bei den Videos um Aufzeichnungen seiner geschäftlichen Transaktionen handelte. Durchaus nachvollziehbar, dass er derart brisante Dokumente wegschloss. Um sich die Zeit zu vertreiben, war sie an jenem Nachmittag an der Glasvitrine vorbeigeschlendert und hatte die Daten auf den Videoboxen überflogen. Dabei war ihr zufällig die Kassette mit der Aufschrift 14. März 1982 ins Auge gefallen – das Datum, an dem sie den Mann kennen gelernt hatte, der für sie zu einer Art Vaterersatz hatte werden sollen. Nachdem sie den unrühmlichen Versuch unternommen hatte, Grant Woodards Rolls-Royce – einen legendären Silver Cloud – zu stehlen.

***

Eigentlich hatte sie bei solchen Aktionen gar nicht mitmachen dürfen. Big Eddy duldete sie zwar in seinem Laden, hielt sie aber geflissentlich aus den Autodiebstählen und Schiebereien heraus, auch wenn sie ihn, seinen Mechaniker und zwei Karosseriebauer ständig damit nervte. Er sei der Carnapper, beteuerte er nachdrücklich, seine Schwester jedoch zu Höherem berufen.

In dieser Hinsicht war Eddy echt skurril. Er kümmerte sich akribisch darum, dass sie regelmäßig die Schule besuchte, sich zweimal täglich die Zähne putzte und in ihrem Beisein keine schmutzigen Witze erzählt wurden. Auf der anderen Seite brachte er ihr das Autofahren bei, als sie noch keine zwölf war, zeigte ihr, wie man einen Motor in seine Einzelteile zerlegte und eine Karosserie neu spritzte. Aber wie das Kerngeschäft, das eigentlich Spannende in seinem Job, funktionierte, erklärte er ihr nicht. Das, was ihr am meisten Spaß gemacht hätte, enthielt Eddy ihr vor.

Also beschloss sie, auf eigene Faust ein Ding zu drehen.

Sie hatten den Wagen schon oft in einem der vornehmen Wohnviertel geparkt gesehen, und ihr Bruder und seine Leute waren dann jedes Mal völlig aus dem Häuschen geraten. Demnach, folgerte Emma, musste es sich um eine begehrte Luxuslimousine handeln. Sie wollte den Jungs zuvorkommen, zeigen, was sie draufhatte, den Beweis liefern, dass sie diesen Teil des Jobs genauso gut beherrschte wie irgendein Typ.

Peinlich genau jede Geschwindigkeitsbegrenzung einhaltend, fuhr sie den Wagen nach erfolgtem Carnapping zu Big Eddy’s Shop, als eine schwarz glänzende Großraumlimousine sie an den Straßenrand abdrängte und zum Anhalten nötigte. Da hatte sie gerade mal fünf Minuten in der Nobelkutsche gesessen.

Bevor sie reagieren konnte, stiegen zwei bullige Stiernacken aus dem anderen Wagen und rissen ihre Fahrertür auf. Einer lehnte sich mit dem Rücken an den Kotflügel und sondierte mit zusammengekniffenen Augen das Terrain, der andere beugte sich zu ihr ins Innere. Mit unbewegter Miene drehte er den Schlüssel aus der Zündung. »Los, raus aus der Karre, Schwester.«

Die beiden Typen stopften sie in den anderen Wagen und fuhren einige Meilen, bevor sie in der Tiefgarage eines modernen Bürogebäudes parkten. Schweigend schoben sie Emma in einen Aufzug und fuhren mit ihr in die siebzehnte Etage. Nach kurzem Aufenthalt in einem eleganten Empfangsbereich wurde sie in das Allerheiligste geführt und die Tür hinter ihr geschlossen – ihre Begleiter blieben draußen.

Emma straffte die Schultern, strich ihre Sachen glatt und warf energisch die dunkelblonde Mähne zurück. Sie sah sich in dem protzigen Büro um und ließ den Blick zu den wandhohen Fenstern mit der spektakulären Aussicht ins Freie schweifen. Wow, das stank ja geradezu vor Geld. Aber das konnte sie nicht jucken.

Von wegen. Das Herz trommelte ihr stakkatomäßig gegen die Rippen, als der jagdgrüne Chefsessel mit der hohen Rückenlehne unvermittelt in ihre Richtung herumschnellte. Und ein distinguierter Herr mittleren Alters sie von oben herab musterte. Emma schob sich abermals die Haare aus der Stirn und funkelte ihn trotzig an.

»Aha«, meinte er nach kurzer Bestandsaufnahme launig, »50 sieht also ein Autodieb aus.«

Komisch, sie wünschte sich zwar brennend, mit Eddys Leuten in einem Atemzug genannt zu werden, trotzdem war ihr diese Bezeichnung verhasst. Sie nagte an ihrer Unterlippe, die plötzlich unkontrolliert zu zittern begann, und stakste wie eine Schlafwandlerin durch das Büro. Nahm wahllos sündhaft teure Kunstgegenstände von den Regalen auf, wog sie abschätzig in der Hand, als handelte es sich um spottbilligen Nippes, und stellte sie wieder hin. Sie spähte über ihre Schulter hinweg zu dem Mann in dem imposanten Ledersessel. »Ich nenne es lieber Autobefreiung.«

»Nenn es, wie du willst, mein Kind«, sagte er milde. »Es ändert nichts an der Tatsache, dass darauf fünf bis zehn Jahre Gefängnis stehen.«

Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich vor Schreck in die Hosen gemacht. Gottlob fing sie sich spontan wieder. Wie man überzeugend pokerte, hatte sie immerhin bei Big Eddy und seinen Kumpels gelernt. Sie drehte sich zu dem großen Unbekannten um und fixierte ihn kühl. »Was Sie nicht sagen, Cher«, brachte sie glaubhaft schnippisch hervor. »Ich bin aber erst vierzehn und damit noch nicht strafmündig. Minderjährige kommen nicht in den Knast, es sei denn, sie haben jemanden umgebracht.«

»Verstehe.« Der Mann schob ihr über den Schreibtisch hinweg ein Telefon hin. Er tippte mit sorgfältig manikürten Fingern auf den Hörer und meinte kühl: »Dann rufst du wohl besser mal deinen Anwalt an.«

»Wie bitte?«

»Eine professionelle Autobefreierin wie du hat bestimmt einen brillanten Anwalt, der sie vertritt. Oder?«

Sie antwortete nicht. Starrte ihn nur mit wutblitzenden Augen und bebenden Lippen an, worauf er ungehalten seufzte. »Na schön, dann ruf deine Eltern an«, schlug er einlenkend vor.

Verlegen zog sie die Schultern hoch, verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ich hab keine«, murmelte sie betreten.

»Du musst aber doch einen gesetzlichen Vertreter haben? Dann ruf eben den an.«

Worauf Emma den Hörer aufnahm und die Nummer von Eddys Spelunke wählte.

Eine Stunde später zerrte Eddy sie aus Grant Woodards Büro. Sie konnte sich nicht einmal wehren, weil er ihr schmerzhaft den Arm auf den Rücken gedreht hatte. Als die Aufzugtüren aufglitten, stieß er sie so brutal ins Innere, dass sie vor die verspiegelte Wand prallte. »He«, japste sie entrüstet und umklammerte den Handlauf, um nicht zu stürzen. Sie rieb sich den schmerzenden Arm und fokussierte ihren Bruder.

»Ein Rolls-Royce«, schnaubte Eddy. In zwei Schritten war er bei ihr. Sobald sich die Aufzugtüren geräuschlos schlossen, brachte er sein Gesicht bedrohlich dicht an ihres. »Emma Terese Robescheaux, du hast gegen meinen ausdrücklichen Wunsch gehandelt und ein Auto aufgebrochen. Aber nicht etwa einen stinknormalen Camaro oder Jeep, den man kinderleicht verhökern kann, o nein!« Er fluchte in blumigstem Cajun-Französisch. »Denkste! Es musste unbedingt ein Rolls-Royce sein, ein verdammter Silver Cloud!«

»Aber davon habt ihr doch alle so geschwärmt«, brüllte sie zurück, worauf er sie so heftig schüttelte, dass ihr Kopf unkontrolliert hin und her wippte.

»Himmelherrgott, ja, ich hab davon geschwärmt«, brachte er zwischen zusammengebissenen Kiefern hervor. »Weil es ein traumhafter Schlitten ist. Aber hattest du dir auch überlegt, wie wir so eine Karre wieder loswerden? Mon Dien!«, knurrte er ungehalten. »Aber das ist hier nicht der entscheidende Punkt. Ich hab’s dir tausendmal erklärt, Emma: Du hast was Besseres verdient als ’ne Karriere als Autoknacker. Grundgütiger, am liebsten würde ich dich übers Knie legen und dir den Hintern versohlen!« Stattdessen riss er sie in seine Arme und drückte sie so fest, dass es ihr die Luft aus den Lungen presste. »Mensch, Em.«

Sie hatte sein Herzklopfen im Ohr und räumte schließlich entwaffnend offen ein: »Ich hatte echt eine Mordsangst, Eddy. Das kannst du mir glauben.« Er umarmte sie inniger. »Es tut mir so leid, wie er dich angebrüllt hat«, flüsterte sie. »Das war nicht fair.«

Mr. Woodard, der sich ihr gegenüber sehr moderat verhalten hatte, war mit ihrem Bruder nicht besonders zimperlich umgesprungen. Er hatte Eddy eine geschlagene Dreiviertelstunde niedergebügelt, ehe sie endlich gehen durften.

Zu ihrer Verblüffung bog ihr Bruder den Kopf zurück und sah sie fest an. »Nein«, gab er zurück. »Er hatte mit allem Recht. Und wir können froh sein, dass wir so glimpflich davongekommen sind, Em. Dieser Woodard hätte uns beiden ’ne Menge Arger machen können.«

Jetzt, nachdem sie sich rückblickend als Vierzehnjährige auf dem Bildschirm wahrgenommen hatte, fühlte sie förmlich die Verletzlichkeit und Furcht hinter ihrem forschen Auftreten von damals. Und in dem grässlichen Bewusstsein, dass sie viele Jahre lang von versteckten Kameras beobachtet worden war, fragte Emma sich ernsthaft, wie viel Arger Grant ihnen tatsächlich gemacht hatte.

Wenn sie überlegte, was er so alles gefilmt haben mochte, überkam sie das kalte Grausen. Sie konnte nur vermuten, dass sie das Meiste bereits gesehen hatte.

Bon Dien, aber was, wenn nicht?