Prolog
Gegenwart – Oktober 1983
Chloé würde in Kürze heiraten. Vielleicht hatte sie deshalb entschieden, sich von den Briefen ihrer Schwester Lilly für immer zu trennen. Vielleicht hatte sie auch deshalb ihre Dachterrasse wieder in einen Garten verwandelt, wie zu Lillys Zeiten. An der Mauer rankten sich ein Weinstock und Kletterrosen empor, es gab Geranien, nach roten, violetten und rosafarbenen Blüten gruppiert, Vergissmeinnicht und Freesien, Stiefmütterchen und betörend duftenden Jasmin.
Die Handwerker hatten den Giebel abgedichtet. Im Dachgeschoss bestand nicht länger die Gefahr, dass einem Mörtelbrocken auf den Kopf fielen. Die Wände waren weiß gekalkt worden, wobei die Männer darauf geachtet hatten, Lillys Rebenbordüren nicht zu übermalen. Doch in der Nacht zuvor hatte Chloé ein Loch in den Verputz gebohrt, darin Lillys gebündelte Briefe versteckt, sie mit Mörtel bedeckt und das Weintraubenmuster neu übermalt.
Irgendwann würde dieses Haus einen neuen Besitzer haben. Wenn dann mit der Zeit der Verputz abbröckelte, würde der Eigentürmer die gebündelten Briefe finden: vergilbt, mit weißen Farbklecksen, verlorene Zeilen, Zeugnisse einer großen Liebe.
Chloé stellte sich vor, wie diese Person beim Lesen der Briefe von Emotionen übermannt wurde. Staunen, Kopfschütteln, Lachen, Weinen, Liebe, Hass, Verachtung, Trauer, Entsetzen, Wut, gewürzt mit der Angst, Lillys letztem Begleiter eines Tages selbst begegnen zu müssen.
Lilly … Ihre süße kleine Schwester, immer auf der Suche nach dem großen Glück und stets Stift und Papier zur Hand, weil sie das Allgemeingut, wie sie ihre verlorene Liebe genannt hatte, mit einer akuten Sehnsucht nach geschriebenen Worten kompensierte. Lilly brauchte keine Schokolade und kein Leberwurstbrot, keinen Trost der Betrübten, kein Herumirren in der Wohnung oder durch die dunkle Nacht, keinen grauen Nebel und kein eisiges Herz, um den Winter zu füttern. Lilly war Lilly, niemals durcheinander, leer oder ohne Ziel.
Doch dann war Monsieur Inconnu, wie Lilly den Mann in ihren Briefen nannte, in Lillys Leben getreten und auch Chloés eigene Welt hatte sich seitdem schlagartig geändert. Sie konnte endlich loslassen, weil ihre Schwester glücklich war. Das hatte sie immer geglaubt, bis neulich Lillys blassblaue Briefe eintrafen – zwei Jahre nach ihrem Tod.
Lilly hatte Monsieur Inconnu vor mehr als zwei Jahren im Pariser Café de Flore kennengelernt und dort hatte er ihr auch Adieu gesagt. Lilly hatte sich damals oft gefragt, wie es zu dem Ende ihrer Beziehung mit Monsieur Inconnu gekommen war. Chloé wusste nur, dass ihre Schwester seine Antwort schon vor dem Treffen gekannt hatte. Sie war kühl und kurz gewesen: Es ist vorbei!
Ach, Lilly … Wie kalt und unbarmherzig er doch gewesen war, dachte Chloé. Wie sehr muss er dich damals verletzt haben.
Immerfort waren seine Worte daraufhin im Rhythmus von Lillys Alltag wiedergekehrt. Und die Beklemmung, die Chloé seitdem verspürte, weil sie glaubte, ihre Schwester könnte eine Dummheit begehen, hatte ihr damals die Kehle zugeschnürt. Schon einmal hatte sie ein eigenes zerbrechliches Glück verlassen, um sich um Lilly zu kümmern. Chloé war stets darauf konzentriert, auf Lilly zu achten, um nicht in deren Tränenpfützen zu treten.
Sie hatte Monsieur Inconnu seinerzeit nie kennengelernt, wusste kaum etwas über ihn. Dass Lilly nach seinem „Nein“ aus Not und Trennungsschmerz angefangen hatte, Gedichte zu verfassen und ihr noch häufiger zu schreiben begann, erklärte ihr Verhalten nicht. Auch erklärte es Lillys überstürzte Abreise aus Paris in die Provence nicht. Aber Lilly hatte kein Mitleid gesucht. Ihr Herz hatte weiterhin nur für Monsieur Inconnu geschlagen, radikal, schonungslos, immer präzise, der Liebe verpflichtet.
Auf den Leinwänden entstanden mit einem Mal finstere Motive: Dunkle Höllengestalten lösten die fröhlichen Weingötter ab. Die Farbe Blau, die für Lillys äußersten Ausdruck der Sensibilität stand, mündete in Schwarz - eine Farbe, die ihre Schwester verabscheute, weil sie wie das Meer den Tod gab.
„Chloé, er ist Glück, er überwältigt mich. Ich weiß immer, wie es um mich steht, was mit mir geschieht. Dieses Wissen bedeutet, in jeder Sekunde an dem vergangenen Glück teilzuhaben, das mir bis ans äußere Ende folgt“, hatte Lilly am Telefon gesagt. „Dieses Eckchen Bewusstsein ist Voraussetzung für mein Überleben. Ist das nicht auch Glück? Meine Zeilen an dich geben doch dem Erlebten eine Stimme. Es bedeutet Zeugenschaft über mich und mein Leben, es ermöglicht mir, in die Vergangenheit einzudringen, seine Zuneigung, seine Liebe, seine Freundschaft und seine Lüge noch einmal zu durchleben. Nur in dieser Bewegung kann ich verkraften, was er mir angetan hat.“
Chloé sah das gequälte Gesicht ihrer Schwester vor sich, ganz nah an ihrem, mit Tränen in den Augen. „Er hat mich geliebt. Eine solche Liebe hört nicht einfach auf. Ich glaube ihm kein Wort. Nach meiner Rückkehr aus der Provence werde ich mich noch einmal mit ihm treffen.“
Immer wieder kamen Chloé Lillys letzte Worte vor ihrer Abreise in die Provence in den Sinn. In Gedanken hatte sie ihre Schwester damals zum Bahnhof Gare du Nord gebracht und innig umarmt, ihr Gesicht hatte dabei langsam eine Wegstrecke aus Tränen, Lachen und Licht zurückgelegt. Und sie waren plötzlich wieder eine Einheit gewesen.
„Seine Liebe ist wie der Duft der Blumen auf unserer Dachterrasse, Chloé. Durch diesen Mann betrat ich das Reich der Liebe, und bin jetzt lebendiger denn je.“
In der Realität – am Telefon – hatte sie jedoch wütend geantwortet: „Aber wohin wird diese Liebe dich führen? Verdammt, Lilly, er hat die Beziehung beendet!“
Chloé wünschte sich heute sehnlichst, die Szene würde von vorn beginnen, sie könnte die Uhr zurückdrehen und den Satz ungeschehen machen. Nichts begann noch einmal von vorn und sie klammerte sich stattdessen an Lillys Worte der Zuneigung, an ihre Zeilen, ihre Briefe, an ihre gemeinsame Kindheit und das Erwachsenwerden – an die letzten Tage und Wochen, die sie vor Lillys Abreise nach Paris miteinander verbracht hatten.
Lilly … Chloé seufzte und betrat die Dachterrasse. Sie würde alles geben, um jetzt bei Lilly zu sein. Weil sie dann, in diesem Moment, ihre zarte Hand halten, ihr ins Gesicht blicken, ihre Stimme hören und sie um Verzeihung bitten könnte. Lillys Briefe waren immer wie eine Berührung gewesen, hatten ihr gemeinsames Lachen und Geflüster ersetzt. Sie erinnerte sich auch an die kleinen Zettel, die Lilly ihr als Siebenjährige in den Schulranzen gesteckt hatte. Ihre Handschrift war oft verwaschen und ihre Worte nicht besonders deutlich gewesen, bis die Sonne die Schrift erreichte und das Papier nach Mandarinen duften ließ. Worte, die sie glücklich gemacht hatten. Die letzten Briefe ihrer Schwester hatten Chloé schier verzweifeln lassen. Um ein Leben zu erschüttern, gab es kaum etwas Besseres als der Tod eines geliebten Menschen, hatte ihr Vater immer behauptet und Chloé hatte das bis dahin immer geglaubt. Welch ein Irrtum.
Ihr erster Gedanke war, die Zeilen ihren Eltern zu zeigen, mit ihnen über Lilly zu sprechen und den Kummer zu teilen, den sie hervorriefen. Aber hätte ihre Schwester das gewollt? Wem wäre damit gedient, wenn sie Lillys Geheimnis nach all den Jahren lüftete? Sie würde die geliebten Menschen um sie herum ins Unglück stürzen. Davon war sie überzeugt.
Lillys Briefe, ein Zeugnis ihrer Tage in Paris, lagen nun wohlbehütet hinter dem Mörtel und dort sollten sie auch bleiben – für immer. Ihr blieben immerhin noch Lillys Bilder.
Es gab Menschen, die dachten, sie würden sterben, wenn die zweite Hälfte ihrer Seele verschwand. Aber Chloé hatte schon immer gewusst, dass man dieses Glück nicht für sich buchen konnte. Ihr Vater hatte ihrer Mutter nie zugeflüstert, man könne aus Liebe sterben.
Kapitel 1
Lilly war zwar fest entschlossen, an der Universität Sorbonne einige Semester Kunstgeschichte und Literatur zu studieren, doch noch mehr freute sie sich darauf, die quirlige Lebendigkeit der Stadt der Liebe kennenzulernen. Die Sorbonne bot unter dem Titel „Gründungsmythen Europas in Literatur und Malerei“ eine Seminarreihe an und ihr Vater hatte eines Tages den Entschluss gefasst, seiner jüngsten Tochter das Studium zu ermöglichen. Wo ihre Mutter an diesem Tag war, wusste sie nicht, auch nicht, was sie tat. Sie hatten nie darüber gesprochen.
An alles andere erinnerte sich Lilly: Ihr Vater hatte stolz in seiner Stammkneipe von den Plänen seiner Tochter erzählt und schließlich auch ihre Mutter überzeugt. Er war der Meinung, dass die Sonne in Lillys Zeilen und Bildern die Seele wärmte und an unbeschwerte Stunden denken ließ.
„In Paris wird man Lillys Talent fördern, denn unsere Tochter hat die Gabe, durch ihre geschriebenen Worte das Herz für die Liebe zu erwärmen und in ihren Bildern dem Licht des Augenblicks und der Farbe eine besondere Bedeutung zu geben“, hatte er seine Entscheidung begründet. „Sie ist eine begabte Schriftstellerin und eine fantastische Malerin. Erkennst du das denn nicht, Magda?“
Ihre Mutter hatte sie daraufhin bis vor ihrer Abreise abweisend und streng behandelt wie in den Jahren zuvor. Vielleicht hätte sie selbst gern einige Semester in Paris studiert. Vielleicht war sie eifersüchtig und fand es ungerecht, dass ihr in der Jugend der Wunsch verwehrt geblieben war, in Paris zu studieren oder dort die Liebe zu kosten. Vielleicht hatte ihre Mutter mal mit dem Teufel paktiert und Gott hatte ihr deshalb einiges vorenthalten.
„Mama, die Liebe ist doch die schönste Sache der Welt. Man bleibt die ganze Nacht wach oder steht früh um vier auf, um entlang der Seine zu spazieren“, hatte Lilly eines Tages in der Küche gesagt, während sie ihrer Mutter beim Abwaschen half.
Ihre Mutter hielt ihre Hände ins heiße Wasser, den Rücken bequem über das Becken gebeugt. Ihre Blicke begegneten sich zuerst im Glas des Küchenfensters. Lilly wandte sich nicht verlegen ab, sondern hielt den Blick fest, als hätte sich über dem Kopf ihrer Mutter eine Art Sprechblase gebildet, in der sie ihre Gedanken lesen konnte.
Lilly zog die Stirn ein wenig in Falten, und ihre Mutter, der es nicht behagte, dass Lilly ihr mit ihren dunklen Augen so ungeschützt ins Gehirn schauen konnte, schenkte ihrer Tochter ein kurzes Lächeln.
„Wenn Gott nicht bereit ist“, fuhr Lilly fort, „mich in dieser Stadt auch mit der Liebe bekanntzumachen, soll er mich eben sterben lassen, auf welche Weise auch immer.“
Ihre Mutter tippte sich an die Stirn. „Du weißt nicht, was du da sagst, Kind.“
Kind? Verdammt, sie war erwachsen. Sie grinste. „Doch. Aber …“
Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Aber was, Lilly?“
„Papa hat immer gesagt, dass deine Maschine, in der dein Gott es sich gemütlich gemacht hat, manchmal zu altmodisch tickt.“
Eisige Stille.
Lilly sah ihrer Mutter in die Augen, die einen eigenartigen Glanz bekamen. Auch ihr Lächeln war erloschen.
Ihre Mutter tauchte ihre Hand in das Spülbecken. Unversehens klatschte sie Lilly den nassen Lappen an den Kopf. Sekunden später traf Lilly die flache Hand und sie spürte den Schmerz auf ihrem Gesicht. „Wie kannst du es wagen! Geh mir aus den Augen! Verschwinde.“
Das Wasser tropfte über ihre Schultern und in den Ausschnitt ihrer Bluse. Lilly zuckte mit den schmalen Schultern, kicherte und täuschte Gleichgültigkeit vor.
In der Nacht hatte damals der Blick ihrer Mutter sie aber nicht einschlafen lassen. Sie hatte sich seitdem häufiger gefragt, was wohl der wahre Grund für die heftige Ohrfeige gewesen sein mochte und ob ihre Gedanken tatsächlich eine große Sünde wären. Chloé war jedenfalls ebenso dieser Meinung. Es gäbe doch wichtigere Dinge als die Liebe, behauptete sie. Aber diese anderen Dinge konnten Lilly gestohlen bleiben.
Vor ihrer Abreise hatte sie noch feurige Liebesgedichte an ihren imaginären Monsieur Inconnu geschrieben, die nicht frei von frechen Andeutungen gewesen waren. Eines Tages hatte ihre Mutter beim Aufräumen die erotischen Zeilen an ‚den Unbekannten‘ unter der Matratze entdeckt, ihrem Vater gezeigt und einen Streit entfacht. Nach Ansicht ihrer Mutter besudelte sie mit Worten wie ‚Knospen‘ oder ‚Vulva‘ nicht nur sich, sondern den Ruf der ganzen Familie.
Während ihre Mutter sie den ganzen Tag verflucht hatte, hatte ihr Vater nur gelächelt.
„Wir müssen loslassen, Magda. Lilly kann in Paris bei meiner Schwester Berthe wohnen. Sie vermietet doch ihre Appartements an Studenten aus gut situiertem Elternhaus. In Paris kennt zudem niemand ihre Geschichte. Aber hier in der Provence …“ Er blickte dabei über den Brillenrand, sah den stillen Protest in den Augen seiner Frau. „… Und Chloé sollte auch endlich ein eigenes Leben führen können“, fuhr er fort. „Sie hat sich schon zu lange um Lilly gekümmert. Die ‚ältere Schwester‘ ist nicht zwingend eine Berufsbezeichnung und …“
Ihrer Mutter war die Röte ins Gesicht gestiegen. „Moment mal“, unterbrach sie. „Das scheint ja dann beschlossene Sache zu sein. Ich … ich weiß auch nicht. Berthe ist eine Tratschbase. Schon deshalb behagt mir der Gedanke nicht sonderlich.“
„Berthe hat all die Jahre geschwiegen und sie wird sich auch jetzt nicht zu dieser alten Geschichte äußern.“
„Schon gut. Ich bin nur verunsichert. Lilly allein in Paris. Ich muss dir auch noch etwas gestehen. Ich habe Lilly neulich geohrfeigt und konnte ihr nicht sagen, dass es mir leid tut.“
„Ach, Magda, lass los. Du musst sie endlich loslassen“, hatte ihr Vater geantwortet und ihre Mutter dabei zärtlich umarmt. „Lilly geht es doch gut.“
„Bist du dir da sicher, Benedikt?“
„Absolut.“
Ihr Vater hatte auch Chloé einen Vortrag gehalten. Der Punkt war, dass ihre Schwester es immer als notwendig angesehen hatte, die große Beschützerin zu sein – einen Job, für den sie sich wohl als geeignet hielt. Chloé war immer für sie da gewesen, hatte sie vor vielen Jahren in eine Welt zurückgeholt, der sie als fünfjähriges Kind entrissen worden war. Sie selbst hatte an diesen Abschnitt ihres Lebens kaum noch Erinnerungen. Sie wusste nur, dass es Chloé gewesen war, die sie als erstes Familienmitglied an der Haustür stürmisch begrüßt und in die Arme genommen hatte.
Chloé hatte seitdem beschlossen, dass ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens sein würde, auf ihre kleine Schwester aufzupassen. Es hatte Chloé getröstet, die damals überlegene, reife große Schwester zu spielen, die das eigensinnige, unbedachte kleine Mädchen maßregelte, vermutete Lilly. Sie ahnte, was Chloé ihretwegen hatte durchmachen müssen, nachdem sie immer wieder davongelaufen war oder sich auf dem Spielplatz nach einem sinnlosen Geplänkel von Chloé losgerissen hatte. Einmal war sie nach dem stundenlangen Umherirren auf einer Bank eingeschlafen, wo die Polizei sie auffand und wieder nach Hause brachte.
Chloé hatte ihr als Kind das Versprechen abgenommen, nie wieder so etwas Verrücktes zu tun, wie davonzulaufen, und Lilly hatte ihr Wort gehalten. Die Erinnerung an diese Zeit hatte sie jedoch verloren, sie existierte nicht, und die unmittelbare Zeit danach hatte sich im Laufe der Jahre ebenfalls verflüchtigt. Auch wurde der Vorfall, wie ihr Vater ihr Verschwinden einmal genannt hatte, von der Familie mit keinem Wort mehr erwähnt. Ob das die Geschichte war, über die Berthe nicht sprechen sollte? Lilly hatte da so ihre Zweifel. Wenn sie in Paris war, würde sie der Sache auf den Grund gehen.
„Man spricht nicht über Gott, wenn der Teufel neben ihm steht“, hatte ihre Mutter einst auf ein Hinterfragen geantwortet. Mehr kam nicht. Von niemandem.
Eine Frage, drei ausweichende Antworten ihrer Familie und dieses kleine Lächeln ihrer Mutter, ganz sie selbst. Ja, so war ihre Mutter.
„Lilly geht nach Paris, an die Sorbonne“, hatte ihr Vater eines Tages gesagt. „Das Kind hat Talent. Ende der Nörgelei, Magda. Ende der Diskussion!“
Lilly erinnerte sich an den Blick ihrer Mutter: die Augen geöffnet, so als hätten sie sich verausgabt, glasig, als sei das Leben aus ihnen erloschen. Keine Antworten. Kein Lächeln.
Am Tag ihrer Abreise waren die Nerven mit Lilly durchgegangen, vielleicht, weil sie in der Nacht schlecht geschlafen hatte, und fast wären sie alle im Streit auseinandergegangen. Sie war früh aufgestanden, hatte gefrühstückt, sich angezogen und war gegen acht Uhr reisefertig. Sie schaute nur noch einmal in ihrem Zimmer nach, ob sie nichts Wichtiges vergessen oder übersehen hatte mitzunehmen. Immerhin würde Lilly über zwei Jahre in Paris bleiben, vielleicht sogar für immer. Wer wusste das schon. Aber dann hatten ihre Eltern den Abschied hinausgezögert. Ihr Vater stand stumm da und schaute sich um, als prüfte er, ob alle Dinge an ihrem Platz waren, oder als müsste er sich einprägen, was wo stand oder lag, wie das so war bei den letzten Blicken zurück. Dann hatte er sie angesehen und Tränen in den Augen gehabt, als wäre es ein Abschied für immer.
„Mama! Ich reise ab. Das Taxi wartet“, hatte sie gerufen.
„Ich bin noch nicht fertig, Lilly!“
„Konntest du dich nicht vorher umziehen, Mama?“, nörgelte Chloé.
„Vorher?“, rief ihre Mutter. „Du bist ja gut, Chloé. Vorher habe ich Lillys Koffer gepackt, während du dich vor dem Spiegel bewundert hast. Und …“
„Apropos im Spiegel bewundern, Mama“, fiel Lilly ihrer Mutter ins Wort.
„Das reicht, Lilly“, mischte sich ihr Vater ein, der nicht mehr um seine Fassung rang. „Mama hat das Recht, ihre Tochter zum Abschied beeindrucken zu wollen.“
Lilly zuckte die Schultern. „Kein Grund, sich wie eine Transe anzuziehen.“
„Wie eine Transe? Vielen Dank, mein Kind.“
Lilly ging auf ihre Schwester Chloé zu und schenkte ihr einen Blick voller Zärtlichkeit und ein Lächeln, aber keine Umarmung. Sie küsste niemanden, nicht Chloé, nicht Papa, nicht einmal ihre eigene Mutter.
An der Haustür hielt ihre Mutter sie einen Moment zurück. „Du denkst, dass ich dich nicht liebe, dich nicht verstehe, Lilly. Du hast recht. Ich verstehe dich nicht. Aber ich liebe dich.“ Sie hob ihren Zeigefinger und tippte Lilly an die Stirn. „Das kannst du dir aufschreiben für einen deiner zukünftigen Romane! Wie alt bist du jetzt?“
„Das weißt du doch, Mama. Ich bin einundzwanzig.“
Und wieder kein Lächeln, kein Nicken, kein Verständnis.
„Hör zu, Lilly. Tue einfach das, was du zu tun hast. Ich sag dir das nur für die Zukunft. An die musst du denken. Ich bedaure die Zeit, die wir beide in den vergangenen Jahren verloren haben, die ich verloren habe. Du denkst genau wie dein Vater. Ihr seid euch sehr ähnlich.“
„Was redest du denn da, Magda? Halt den Mund!“, sagte ihr Vater in einem barschen Ton.
Lilly sah das Entsetzen im Gesicht ihres Vaters. Sie verstand das alles nicht. Ihre Mutter sagte immer „dein Vater“ und ihr Vater tat das Gleiche, wenn er von Mama sprach, dann sagte er „deine Mutter“. Das war nicht fair. So versuchten sie, sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie taten, als wäre sie diejenige, die für alles verantwortlich war. Das nächste Mal würde sie besser auf eine plötzliche Gefühlsduselei ihrer Mutter vorbereitet sein. Sie eilte zum wartenden Taxi, ohne sich noch einmal umzudrehen.